Ich möchte heute mit Ihnen darüber sprechen, wer "wir" sind.
Heute Mittag war ich mit einer Freundin und ihrem Baby unterwegs, das Baby ist jetzt knapp 1 Jahr alt. Es kennt mich flüchtig, findet mich auf die Ferne prima, von nahem gewöhnungsbedürftig, sprich: es fremdelte. Es vertraut erstmal nur seinen Eltern, auch Oma und Opa haben es noch schwer, Tanten und Onkel sowieso. So ging es uns allen ja irgendwann mal, und dann haben wir uns daran gewöhnt: dass auch Oma, Oma, Tante, Onkel, die Nachbarin, die Freunde der Eltern dazugehören. Wir, die Kernfamilie. Wir, die erweiterte Familie. Wir, der Freundeskreis. Die Schulklasse - die anderen Klassen sind natürlich doof. Außer, es steht ein Wettkampf gegen eine andere Schule an. Dann ist die eigene Schule gut, die andere Schule doof. Mit der Stadt identifizieren wir uns auch. Und dann sind wir plötzlich Papst Weltmeister, als Land, zusammen mit der doofen Frau N., die mich nicht schuckeln soll während Mama auf dem Klo ist, mit der Parallelklasse 5d in der bekanntlich nur Idioten sind, mit dem Gymnasium gegenüber und zusammen mit Köln. Hossa.
Wenn allerdings jemand einen Schritt hinter der Grenze zu unserem Land geboren wurde, dann ist er uns ziemlich fremd. Wenn er Glück hat, geht es um eine innereuropäische Grenze, dann darf er hierher, wann immer er will. In Deutschland sind wir mittendrin im Schengen-Raum, da kriegen wir das nicht so mit, "wir" sind schließlich Europäer! Reisefreiheit, eine Währung! Aber lebten wir in einem Land mit EU-Außengrenzen, Ungarn zum Beispiel, hätten wir eine Grenze zu Serbien. Nicht EU, nicht EFTA, nicht Schengen. Wer also einen Schritt hinter dieser Grenze geboren wurde, darf in eine bestimmte Richtung nicht einfach einen Meter weiter gehen. Nicht ohne Visum, da sei Stacheldraht vor. Und auch mit Visum nicht so lange, wie er will.
Das finden wir logisch. Das sind die, und das andere sind "wir". Und dann gibt es noch andere, die leben noch weiter weg, es sind noch andere Länder dazwischen oder sogar ein Meer. Die sehen auch noch anders aus, ganz fremd alles, das sind nicht "wir". Außer - ich werde wirklich nur ganz kurz polemisch - es käme nun eine Alien-Invasion. Dann wären auch die hinter "unserem" Meer "wir", wir Menschen, wir von der Erde. Die Aliens, das sind die anderen.
Was ich sagen möchte: das Konzept von "wir" ist dehnbar. Es weitet sich durch Wachstum. Persönliches Wachstum, peu à peu. Wir werden sicherer in uns selbst, dadurch können wir uns auf bisher Fremdes besser einlassen, es kennenlernen. Und manchmal gibt es Einschnitte - wenn das Baby von heute Mittag in den Kindergarten kommt, wird es sich sehr schnell mit bisher Fremden arrangieren müssen. Ebenso ist es bei einem Schulwechsel, wie gerade bei Mademoiselle. Oder, was noch ein viel größerer Einschnitt wäre: wenn wir "unser" Land verlassen müssten, um irgendwo anders zu leben. (Ich setzte dabei "unser" in Anführungszeichen, weil ich finde, es schadet nie, sich bewusst zu machen, dass uns dieses Land nicht in Wirklichkeit gehört. Grenzen haben wir ja nur erfunden. Es gibt keine natürliche Macht, die Menschen in "die einen" und "die anderen" unterteilt, die sagt, wer hier lebt darf das eine, und wer dort lebt, der darf das andere. Das haben wir uns alles nur ausgedacht. Das aber nur nebenbei.)
In diesem Sinne: aus welcher Motivation irgendjemand aus einem anderen Land hierher kommt, um einen Asylantrag zu stellen, spielt für mich keine Rolle - wirtschaftliche Gründe, Krieg, persönliche Verfolgung, was auch immer. Allein, dass jemand es für nötig hält, alles zurückzulassen, einen dieser äußerst gefährlichen Wege, von denen wir im Moment so viel hören zu beschreiten, um in einer fremden Kultur, einer fremden Sprache, einer fremden Umgebung völlig neu anzufangen, ist für mich Rechtfertigung genug. Völlig unverständlich ist mir, welche Sorgen, welche Ängste ich vor diesen Menschen haben sollte, was sich für mich persönlich verändert. Ich schrieb es schon einmal - sich mit Fremdem, Fremden, neuen Eindrücken auseinanderzusetzen, bedeutet immer eine gewisse Mühe, da das eigene eingerastete Weltbild etwas angeschubst wird - sieh da, es gibt Menschen, die sehen etwas anders, die feiern andere Feste, die machen Salz statt Zucker an ihre Haferflocken! Aus eigener Erfahrung verstehe ich, dass das verunsichern kann. Ich habe aber kein Verständnis für die, bissig werden, weil sie diese Verunsicherung nicht aushalten können. Wir sind alle nicht mehr die kleinen Babys, die weinen müssen, wenn Mama aufs Klo geht.
Deshalb meine Bitte - helfen Sie den Menschen, die aus anderen Ländern hierher kommen. Und wenn Sie verunsichert sind, denken Sie die Sache noch einmal durch, ich bin mir sehr sicher, sie kommen zu diesem Ergebnis: die Angst und Verunsicherung der Flüchtlinge muss unermesslich viel größer sein als die Ihre. Reichen sie eine Hand, das ist das, was "wir" untereinander so tun.
Sie schreiben mir aus dem Herzen.
Reflexionsbedarf: Ja.
Kommunikationsbedarf: Unbedingt.
Vielmehr aber noch Handlungsbedarf.
Nagel. Kopf. Und so. Großes Kino.
Aber dies muss ich loswerden:
Ich habe immer allen "einfachen" Rezepten misstraut. Und genauso falsch wie "alle-raus" ist für mich "alle-rein".
Ob Grenzen generell offen sein sollten und ähnliche Fragen, darüber kann man sicher geteilter Meinung sein. Mir ist auch bewusst, dass mein Standpunkt dabei einer der extremeren ist.
Bei dem Text oben ging es mir aber nicht so sehr um theoretische politische Fragen, sondern ganz konkret um die Menschen, die schon hierher gekommen sind. Diese Menschen sind keine theoretische Überlegung über Gründe, Hintergründe und Berechtigung von Migration oder Flucht, sondern ein Fakt, und sie brauchen Hilfe. Und dabei finde ich es müßig, zu spekulieren, ob sie hier sein sollten oder nicht. Und ob es angebracht ist, einer Person in einer Notlage zu helfen, dazu haben sich mir noch nicht viele verschiedene Standpunkte eröffnet, die ich nachvollziehen könnte.
Der lange Kommentar ist nicht weg, nur in der Sicherheit der Festplatte. Ich gehe noch mal drüber und stelle ihn dann hier ein, auch wenn es dann niemanden mehr interessiert.
Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Wer immer als Flüchtling zu uns kommt, sollte menschlich behandelt werden. Das schulden wir uns als zivilisierte Gesellschaft schon selbst. Wer seine Heimat hinter sich lässt, tut dies niemals aus einer Laune, Marotte heraus oder um einfach Schmarotzer in einer für ihn fremden Gesellschaft zu werden. Diese Haltung "die kommen ja alle nur, um uns hier etwas wegzunehmen" ist unglaublich dumm und entbehrt jeder Empathie.
Gleichwohl halte ich es für brandgefährlich, nun alle Grenzen einzureißen und jeden ausnahmslos aufzunehmen. Wenn ich mir die wirtschaftlichen Ungleichgewichte dieser Welt ansehe, dann ist klar, dass die Zahl derer, die einen Grund hätten, nach Deutschland, Europa oder in die "erste Welt" zu kommen in die Milliarden geht. Selbst wenn wir jeden guten Willen hätten, würde das die Gesellschaft, aber auch die Wirtschaft schnell überfordern. Trotzdem stehe ich zu meinem ersten Satz. Und Menschen, die aus politischen, weltanschaulichen, religiösen oder sexuellen Gründen verfolgt werden, sollten wir schon aus geschichtlichen Gründen Asyl gewähren.
Es gibt für mich aber noch einen weiteren Grund, Asyl aus wirtschaftlichen Gründen abzulehnen. Jeder Flüchtling, der intelligent und informiert genug ist, die wirtschaftlichen Zustände seiner Heimat mit denen unseres Landes zu vergleichen, ist ein Verlust für seinen Wirtschaftsraum. Wir würden die Situation für die Zurückgebliebenen also nur weiter verschärfen. Sinnvoller fände ich es, wirtschaftliche Hilfestellung zu geben. Das ist etwas, was in Sonntagsreden unserer Politiker auch immer wieder versprochen/gefordert wird, Getan wird aber nicht viel. An der Stelle "bewundere" ich den geistigen Totalausfall unserer Eliten. Denn wenn wir das nicht tun, werden wir tatsächlich auf kurz oder lang überrannt. Keine Mauer und kein Graben hält Milliarden auf. Es läge also in unserem ureigensten Interesse und wäre kein Almosen.
Was ich mir wünschen würde:
Ein Einwanderungsgesetz mit klaren wirtschaftlichen Zielen, einfachen Regeln und festen Quoten. Natürlich hoch selektiv und höchstwahrscheinlich "ungerechter" als das Asylrecht.
Asyl auf Zeit für Bürgerkriegsflüchtlinge inklusive einer einfachen und schnellen Anerkennung aber auch einer schnellen Ausweisung nach Befriedung des Konflikts.
Wer hier lebt, kann, darf und soll arbeiten. Egal wie lange er bleibt oder aus welchen Gründen. Das macht auch volkswirtschaftlich Sinn.
Schnelle Bearbeitung von Asylanträgen inklusive einer schnellen Ablehnung und Ausweisung. Unsicherheit ist unmenschlich.
"Asyl auf Zeit für Bürgerkriegsflüchtlinge inklusive einer einfachen und schnellen Anerkennung aber auch einer schnellen Ausweisung nach Befriedung des Konflikts."
In der Zeit zwischen Aufnahme und Beendigung des Konflikts leben diese Menschen hier. Ihre Kinder gehen hier zur Schule, deren Eltern arbeiten vielleicht sogar hier, haben Nachbarn, vielleicht sogar Freunde... oder sollen die "Asylbürger auf Zseit" während ihres Aufenthaltes hier vollkommen isoliert werden, damit genau das nicht passiert?
Isolation wäre unmenschlich. ich betone gern noch einmal meine feste Überzeugung, dass wir Flüchtlingen, egal aus welchem Grund sie hier sind und auch egal, wie groß die Chance ist, dass sie bleiben dürfen, Gastfreundschaft schulden.
Was wäre denn so schlimm daran, wenn sich Bürgerkriegsflüchtlinge hier wärend ihres Aufenthalts in die Gesellschaft einfügen? Sie wüssten ja von Anfang an, dass sie hier auf Zeit leben.
Da sind in Deutschland schon üble Dinge geschehen. Eine junge Frau wurde in die Türkei abgeschoben, weil die Behörden unterstellten, die Eltern hätten bei der Einreise mit der damals vierjährigen Tochter eine falsche Nationalität angegeben. Oder man schiebt Jugendliche mit einem schwer erarbeiteten Hausptschulabschluss ab, die einen unterschriebenen Ausbildungsvertrag in der Tasche haben.
Warum sollten denn die Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich hier über die Zeit integriert haben, überhaupt das Land wieder verlassen müssen?
Dass in Deutschland üble Dinge geschehen, sehe ich genauso. Was Sie dort oben an Einzelfällen beschreiben, geht überhaupt nicht.
Ich bin auch der Meinung, dass unser Land nur profitieren kann, wenn viele Leute hier eine Ausbildung absolvieren. Auch, wenn sie danach in ihre Länder zurückkehren, sollen sie gern "deutsches" Know-how und vor allem die Kenntnis der deutschen Sprache mitnehmen.
Sie schreiben: "Ich finde die Vorstellung schlimm, von Flüchtlingen zunächst Integration zu erwarten, um sie dann irgendwann wieder aus ihren hier gebildeten Netzwerken herauszureißen und in ein Land abzuschieben, mit dem sie möglicherweise nicht mehr sehr viel verbindet."
Das klingt ein wenig so, als kämen diese Menschen aus dem Nichts. Sie hatten eine Heimat, Freunde, Arbeit. Und sie sind nicht gegangen, weil sie nach Deutschland kommen wollten, sondern weil sie der Krieg vertrieben hat. Wir gehen hier doch davon aus, dass der Krieg dann beendet ist, ich würde niemanden in den Bürgerkrieg zurückschicken wollen. Warum sollten diese Menschen "nicht mehr sehr viel" mit ihrer Heimat verbinden? Die Erfahrung mit Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien zeigt ein anderes Bild.
Die grundsätzliche Frage, die Sie stellen: "Warum sollten denn die Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich hier über die Zeit integriert haben, überhaupt das Land wieder verlassen müssen?"
Meine Antwort: Weil der Grund für ihren Aufenthalt entfallen ist.
Wer trotzdem gern bleiben möchte, dem sollte die Möglichkeit der Einwanderung bleiben. Hierzu empfehle ich Abschnitt 2 des oben verlinkten Artikels.
Ich kann Ihre Position auch nachvollziehen, es ist keine, die ich für gänzlich abwegig oder unmenschlich halte. Und wenn jemand hier einfach so ein unantastbar konsensfähiges Gesetzt aus dem Ärmel schütteln könnte, wäre die Welt ein anderer Ort.
Bei mir ist es so, dass ich bei Einwanderungsregelungen von mir ausgehe, mir also vorstelle, wie es wäre, wenn ich in einem anderen Land leben würde, in dem es mir aus welchem Grund auch immer bedeutend schlechter ginge. Ich würde es zum einen nicht einsehen, wieso ich mich an Regeln halten sollte, die ein anderes Land macht, an denen ich nie durch einen demokratischen Prozess beteiligt war, das würde sich mir schon per se nicht erschließen. Zweitens würde ich auch nicht einsehen, wieso ausgerechnet ich, weil ich möglicherweise gebildet bin, mein Leben darauf verwenden sollte, ein Land, in das ich zufällig hineingeboren wurde, nach vorn zu bringen. Ich würde weiter nicht verstehen, wieso andere Glück haben sollen und ich Pech, nur weil ich eben woanders lebe.
Ich kann also, von mir ausgehend und rein menschlich, keine Position finden, aus der ich von jemand anderem erwarten kann, nicht aus einer für ihn schlechten Situation zu fliehen. Natürlich kann ich Gesetze erfinden, die das verhindern sollen und natürlich kann ich Mauern und Zäune und so weiter bauen, aber das macht meine Berechtigung dazu nicht weniger fragwürdig - es scheint ja schlichweg das Recht des Stärkeren zu sein. Eines Stärkeren der, das darf man vielleicht auch nicht unterschlagen, unter anderem durch sein Wirtschaftshandeln aktiv dazu beiträgt, dass es vielen Menschen in vielen anderen Ländern schlecht geht.
Wie gesagt, ich glaube auch nicht an einfache Lösungen und ich finde das daher auch alles schwierig. Froh bin ich, dass wir uns einig sind, dass wir die hier derzeit lebenden Flüchtlinge in ihrer schwierigen Situation so gut wie möglich unterstützen wollen. Und vielen Dank für den interessanten verlinkten Artikel.