Frau Steinbach von der CDU macht sich Sorgen um deutsche Kinder, die in Regionen aufwachsen in denen sie als Kinder mit deutschem Hintergrund in der Minderheit sind. Diese Kinder, so befürchtet Frau Steinbach, übernehmen den türkischen Akzent ihrer Altersgenossen und auch deren weltanschauliche Ansichten.
Ich fühle mich davon konkret angesprochen. Ich bin Deutsche, mein Kind ist, im ganz klassischen Sinne, "wurzeldeutsch" und wir leben in einer Stadt, die in der Tagesschau neulich als die deutsche Stadt mit dem höchsten Migrantenanteil beschrieben wurde. Ich habe keine Kopf für Zahlen, so grob waren es im 2. Quartal 2014 60% Migranten hier, in den einzelnen Bezirken variiert das natürlich sehr. Wir wohnen in der Innenstadt, der Schulbezirk von Mademoiselle müsste einen Migrantenanteil von über 70% haben (Details bei Interesse hier). Oder ganz auf unseren Einzelfall bezogen: im Kindergarten waren von 44 Kindern drei komplett deutsch, und in der jetzigen Schulklasse - 24 Kinder - fallen mir zwei (Mademoiselle eins davon) Kinder ein, deren Eltern nicht noch muttersprachlich eine weitere Sprache sprechen (über Nationalität kann ich nichts sagen, ich habe dort noch nie jemanden nach dem Ausweis gefragt). Feshalten können wir jedenfalls: mein Kind ist eins dieser deutschen Kinder, die in der Schule und beim Fußball in der absoluten Minderheit sind.
Hat mein Kind einen türkischen Akzent? Nein. Die anderen Kinder in der Klasse übrigens auch nicht, was zum einen daran liegen könnte, das die wenigsten überhaupt Türken sind. Tatsächlich haben diese Kinder alle einen hessischen Akzent, der mich als Rheinländerin natürlich immer wieder befremdet. Aber ich komme damit klar, dass hier im Winter immer jeder eine "Grippe" hat, und ob das die mit Fieber, oder die mit Ochs und Esel ist, muss man aus dem Zusammenhang entnehmen.
Kein türkischer Akzent also, auch kein anderer fremdsprachlicher (naja, hessisch...). Sonstige sprachliche Interferenzen? Aber ja! Mademoiselle kann ein paar Brocken Türkisch, ein paar Brocken Italienisch (was bei unser Venedig-Reise sehr gelegen kam, als die Kinder allein im Hotel waren, hungrig wurden und völlig ohne Scheu mit dem Rezeptionisten auf Italienisch radebrechten), sie kann auch spanische Lieder singen ohne, dass sich Spanischkundigen (also mir) die Zehennägel kräuseln. Das kyrillische Alphabet benutzten sie und ihre Freunde eine Zeit lang als Geheimschrift. In der Schule wird dann noch Englisch gelernt, außerdem haben sie mal ein paar Gebärden gelernt und wie Blindenschrift funktioniert. Das finde ich alles sehr schön. Mademoiselle selbst empfindet es als Nachteil, dass sie nicht, wie der Großteil ihrer Freunde, neben Deutsch noch eine weitere Sprache beherrscht. Vor etwa einem Jahr war das ein größeres Thema, da war sie besorgt, ob sie später einen guten Beruf bekommt, wenn sie doch nur Deutsch kann. Ich konnte sie beruhigen - wenn Interesse an Sprachen da ist, ist es natürlich auch ohne Migrationshintergrund möglich, diese zu lernen, ich selbst spreche auch drei Sprachen fließend, die ich erst in der Schule gelernt habe (ohne im Deutschen einen Akzent zu haben, übrigens). Trotzdem: praktisch ist es natürlich schon, zweisprachig zu sein!
Egal, zurück zum Thema - wie ist das mit der Weltanschauung? Da bin ich jetzt etwas ratlos. Ich kenne die Weltanschauung und Wertesysteme der Familien in Mademoiselles Klasse nicht en detail. Generell fällt mir immer wieder zu meiner Überraschung auf, dass Kinder tendenziell konservativ sind, und zwar alle, die ich kenne. Sie sind Veränderungen gegenüber skeptisch, sie fühlen sich in festen Strukturen wohl, sie mögen klare Ansagen. Der Umgang der Eltern mit den Kinder ist bunt gemischt. Manchen ist Selbständigkeit sehr wichtig, sie trauen ihren Kindern tendenziell mehr zu, andere hingegen sind restriktiver und steuern die Freizeit der Kinder noch sehr stark. Manche sind sehr leistungsbetont, haben feste Lernzeiten und kontrollieren den schulischen Fortschritt sehr eng, andere nehmen nur die allernotwendigsten Termine in der Schule wahr. Manche sind sehr eng in eine große Familie eingebunden, andere wiederum alleinerziehend ohne Verwandtschaft vor Ort. Zwischen diesen Haltungen und der Nationalität nehme ich keine Korrelation wahr.
Manchmal gibt es Missverständnisse, die auf unterschiedlichen kulturellen Hintergründen beruhen. Mademoiselle hatte im Kindergaren eine beste pakistanische Freundin, die mit ihrer gesamten (!) Familie zum Kindergeburtstag erschien. Andersherum war diese Familie wie vor den Kopf gestoßen, als ich Mademoiselle bei einer Einladung zum Spielen nur abliefern und später wieder abholen wollte, statt mindestens Herrn N. mitzubringen und - während die Kinder spielten - zahlreichen Mahlzeiten beizuwohnen und den Nachbarn vorgestellt zu werden. So dachte ich vielleicht im ersten Moment "Schmarotzer!" (Gatecrashing auf dem Kindergeburtstag geht ja gaaaar nicht!) und sie wiederum hielten mich für unhöflich, abweisend und soziophob.
Diese Missverständnisse kann man aber klären. Und ja, natürlich ist das mit etwas Aufwand verbunden, man muss mit Personen, die man noch nicht so gut kennt, sprechen, vielleicht Unsicherheiten zugeben, sich erklären, sich vielleicht auch manchmal hinterfragen, aufeinander zugehen, gegenseitig. Vielleicht ist das der Punkt. Dass es nicht funktionieren kann, wenn der eine alles unverändert haben möchte, keine neuen Eindrücke gewinnen will, mit seinem Horizont und dem, wie es immer war, nicht nur zufrieden ist, sondern etwas anderem außerhalb dieser kleinen Welt keine Existenz zubilligen möchte.
Kommen wir zurück zu meinem deutschen Minderheitenkind in der Schule und beim Fußball:
Ich wünsche mir für mein Kind einen offenen Geist. Eine Vielzahl an Erfahrungen, die Möglichkeit, aus einer Fülle an Formen zu Leben, die richtige für sich auszusuchen. Ich möchte, dass sie sich vor Fremdem und Fremden nicht fürchtet, sondern Unbekanntem neugierig begegnet. Dass sie auf andere Lebensweisen offen zugehen und sie respektieren kann und ein Gefühl der Globalität entwickelt. Wir gehören alle irgendwie zusammen, jeder lebt sein Leben, so gut er kann, ob jemand das Glück oder das Pech hat, in einer bestimmten geographischen Region geboren zu sein, sagt nichts über seinen Charakter, seinen Wert oder sein Anrecht auf eine Chance, sein Glück zu finden, aus.
Ich sehe diesen Wunsch in unserem Wohnumfeld nicht gefährdet. Im Gegenteil.