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    Freitag, 24. Juni 2016
    Mein Sohn

    Zeichnung der Painteress-in-Residence Umienne um gestrigen Eintrag:




    Ich bin nicht sicher, ob ich schonmal von meinem Problem mit der Büroputzfrau erzählt habe. Immerhin besteht dieses Problem schon seit ungefähr 8 Jahren.

    Es handelt sich um eine ältere Dame, die nur ganz wenig Deutsch spricht, auch eine sonstige Sprache teilen wir nicht. Als Mademoiselle geboren wurde, hatte ich irgendwann bald ein Babybild von ihr im Büro. Als sie noch nicht so richtig viele Haare hatte. Dann wurde sie irgendwann größer und trug Zöpfe und ich habe ein zweites Bild dazugestellt.

    Meistens unterhielt ich mich alle paar Tage so gut es ging mit der Büroputzfrau, meist, wenn wir uns in der Küche begegneten. Ich arbeitete damals gearbeitet und traf sie, wenn sie die Sachen vom Tag verräumte und sich amüsierte, dass ich um 19 Uhr noch Kaffee kochte. Eines Tages sprachen wir über Kinder, sie zeigte mir von ihren Kindern und Enkelkindern Fotos und wollte auch von meiner Familie Bilder sehen. Also nahm ich sie mit in mein Büro und zeigte ihr die zwei Bilder von Mademoiselle.

    Die Putzfrau war entzückt, ein Junge und ein Mädchen, wie süß. Ich versuchte zu erkären, dass es sich bei dem eher glatzköpfigen und dem bezopften Kind um dasselbe handelt, aber wir konnten uns nicht verständigen. "Nein, kein Sohn!", sagte ich immer wieder und sie umarmte mich und sagte "jetzt ja Sohn!" Naja, irgendwann gab ich dann auf, wo soll der Schaden schon sein, man muss ja keinen Aufstand proben oder einen vereidigten Dolmetscher kommen lassen, nur weil es ein Missverständnis mit zwei Fotos gibt. "Jaja, jetzt Sohn", sagte ich also und umarmte zurück.

    Eine Zeit lang war dann auch alles gut. Wir trafen uns immer mal wieder in der Küche, "alles gut die Kinder?", fragte die Putzfrau und ich sagte "jaja, alles top mit der Tochter." "Und Sohn?", hakte die Dame nach. "Ja, Sohn auch." sagte ich resigniert.

    Dann wurde das Kind größer, meine Arbeitszeiten änderten sich. Wenn man morgens vor 8 Uhr in den Rapunzelturm kommt, sieht man die Putzleute noch, aber die ältere Dame war nicht dabei, sie hatte ja die Abendschicht. Mademoiselle wuchs weiter und ich hatte wieder ein neues Foto, das Glatzkopfbild war sowieso von der Sonne schon ganz verblichen und ich legte es weg.

    Eines morgens war ich sehr früh im Büro und erfreute mich gerade am Sonnenaufgang. In der Küche, mit Kaffee natürlich. Da kam die ältere Dame herein. Wir sprachen kurz, sie hatte in die Frühschicht gewechselt, dann sagte sie scharf: "Wo Sohn?" "Jaja, alles gut mit den Kindern!", antwortete ich mittlerweile routiniert. Sie ließ sich aber nicht abbringen. "Wo Sohn?!", wiederholte sie und zog mich am Arm zu meinem Büro - ich war mittlerweile sogar zwischen den Stockwerken umgezogen, aber sie wusste trotzdem ganz genau Bescheid. Sie zeigte auf die neuen Bilder von Mademoiselle. "Wo Sohn?"

    Ich fühlte mich jetzt wirklich wie eine Rabenmutter, die ihren Sohn verstoßen hat und nur noch Bilder von der Tochter aufhängt. Was sollte ich sagen? Der Sohn hatte ja nie existiert, aber ihn jetzt verschwinden oder gar sterben zu lassen schien mir dennoch unnötig grausam. Ich weiß garnicht mehr, wie ich mich herausredete, auflösen konnte ich das Ganze jedenfalls nicht. Danach überlegte ich, ob ich einfach irgendwelche kleinen Jungs aus dem Internet ausdrucken und bei mir im Büro aufhängen sollte. Das wäre aber natürlich den Kollegen gegenüber erklärungsbedürftig gewesen und ich wollte mich nicht in weitere Geschichten verstricken. Also entschied ich, einfach nicht mehr so früh arbeiten zu gehen.

    Seitdem habe ich das Büro im Normalfall nicht mehr vor 8:30 Uhr betreten. Heute allerdings traf ich die alte Dame zufällig an der S-Bahn-Station. Wir sprachen kurz, "lange nicht gesehen", sagte ich und die Dame erwiderte "diese Jahr nix Arbeit. Rente!"

    Ich kann jetzt wieder ins Büro gehen, ohne auf die Uhrzeit zu achten.


    (Oh, und wie schön, bebildert hat Umienn es auch schon!)

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