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    Mittwoch, 11. November 2015
    Blogging November - 1472

    In meinem Rotkraut aus der Kantine war heute etwas, das ich zunächst für eine extraterrestrische Lebensform hielt. Es war dann keine, darüber war ich sehr froh, das hätte ja so einen Rummel gegeben, allein schon die ganzen Interviews, und außerdem hätten sich so viele ethische Fragen gestellt: wenn ich das melde (wem überhaupt?), würde dieses Lebewesen ja sicher in einem Forschungslabor landen und untersucht werden, dabei wäre wohl niemandem klar, ob es lebendig ist oder tot und was ihm Schmerzen psychischer oder physischer Art bereitet. Und ich hätte das alles verursacht. Aber hätte ich es verstecken können? Zu Hause eher nicht, da habe ich die Verantwortung für Mademoiselle, wer weiß, ob dieses Lebewesen gefährlich ist. Im Büro? Aber wo dort? In dem Schrank mit meiner kleinen Büroschuhsammlung, 12 Paare sind es mittlerweile, habe ich gestern zufällig festgestellt als ich auf der Suche nach einer Abschiedskarte war?

    Es begann schon gleich hinter meiner Schäfe zu pochen, so viel zu bedenken und heute Abend ist auch noch Kraulschwimmkurs. Dazu ganz nebenbei: die Kraulschwimmpartnerin ist heute nicht da. Geschäftsreise. Ich finde das ehrlich gesagt etwas verdächtig. Wir haben ja beide in Wirklichkeit überhaupt keine Lust, abends um 20 Uhr nochmal zum Schwimmen aufzubrechen. Letzte Woche stand das alles schon sehr auf der Kippe, diese Woche ist also "Geschäftsreise". Hm hm. Wie dem auch sei, ich gehe natürlich hin. Nicht, weil ich Lust hätte, aber weil ich sonst vielleicht verrückt werde. Ich darf über so etwas wie "gehe ich hin oder nicht" gar nicht anfangen, nachzudenken. Ich gehe einfach hin, sonst muss ich ja jeden Mittwoch die Lage neu auswerten und bewerten und zu einer Entscheidung finden, das ist wirklich nicht möglich, da bekomme ich Migräne. Es ist Kraulschwimmkurs, ich gehe hin, fertig.

    Allerdings gibt es ja diese Leute aus dem Internet, die sagen, sie wären an irgendeinem Ort, an dem sie gar nicht sind. Neulich hat noch irgendeine Studentin als Experiment ihre gesamte Familie an der Nase herumgeführt und vorgegeben, sie würde in China oder sonstwo herumreisen, in Wirklichkeit war sie aber in ihrem WG-Zimmer, mehrere Wochen lang. Von den Leuten, die ein ganzes Leben vorspielen mal ganz abgesehen. Im Vergleich damit ist eine Vorspiegelung falscher Kraulschwimmkursteilnahme sicher eine lässliche Angelegenheit.

    Ich habe trotzdem heute schon öfter überlegt, die Kraulschwimmpartnerin per Whatsapp um ein Selfie zu bitten, vor dem Titelblatt einer großen Tageszeitung des Landes, in dem sie sich aufhält. Ich könnte linguistisches Interesse vortäuschen. Aber sie ist schlau, viel zu schlau, sicher würde sie irgendeine Lösung zur Aufrechterhaltung der Täuschung finden. Und sitzt in ihrer dunklen Wohnung (abgedunkelt für den Fall, dass ich mit dem Auto eine Kontrollrunde drehe) unter einer kuschligen Decke, isst irgendeinen köstlichen Salat, übt heimlich Karaoke-Songs und lacht sich ins Fäustchen, dass ich hinter Lollek und Bollek herplantsche. Denkt sie!

    Wie dem auch sei, es war alles nicht ganz so schlimm. Es war nämlich keine extraterrestrische Lebensform sondern ein Stück Plastik. Jetzt denken Sie: Boah, so ein Theater um ein Fitzel Plastik. Denken Sie aber mal nicht "Fitzel", denken Sie "zusammengezwirbelter Müllbeutel, ca. 25 Liter". Naja, ich will nicht übertreiben. Aber doch größer als ein durchschnittlicher Butterbrot- oder Kosmetikeimerbeutel. Irgendwie so zusammengezwirbelt, dass daraus eine Art Kraken mit vielen Beinen entstanden war, in rotkrautrot. Gar nicht mal so hässlich, ich war in doppelter Hinsicht froh, erstens ist Plastiktüte besser als Alien (wegen der ganzen Komplikationen!) und zweitens ist Plastiktüte im Rotkraut auch ganz ehrlich vom Ekelfaktor her besser als Fingernagel in Schwarzwälderkirsch, und das hatte ich ja bekanntlich auch schon.

    Nun müssen Sie wissen, dass ich mich gerade selbst einem kleinen Experiment unterziehe - selbst ist das etwas anderes, als wenn man ein Alien ist und auf einem fremden Planeten in ein Labor getragen wird. Und zwar dachte ich, ich probiere einfach mal aus, wie es ist, Leute nicht immer verbal niederzuknüppeln. Schon nach ein paar Tagen kann ich dazu berichten: es ist in erster Linie schwierig. Ständig muss man irgendwelche fuchsigen Antworten verschlucken und statt dessen "oh, okay!" sagen. Vielleicht habe ich auch deshalb heute etwas viele Worte in mir.

    Heute morgen hatte ich ja schon so eine Situation erlebt: Ich war im Starbucks - das ist jetzt unbedingt kein Grund, Belehrungen über Starbucks abzugeben, bzw. nicht ohne vorher meinen Artikel über den Latte-Faktor studiert zu haben, suchen Sie bitte selbst danach - und las, während ich auf meinen Lebkuchen-Latte wartete (übrigens nicht empfehlenswert. Ich nehme aber immer unterschiedliche Getränke, was einem Missverständnis geschuldet ist: da sind ja viele Mitarbeiter, die kennen mich alle, wenn ich komme sagt der Mitarbeiter ein Getränk. Ich hatte das immer als Vorschlag verstanden und zugestimmt, ich finde es ja gut, wenn andere initiativ sind, das passiert so furchtbar selten. Erst sehr, sehr spät wurde durch einen Zwischenfall klar, dass die Leute sich in Wirklichkeit zu erinnern versuchen, was ich nochmal immer trinke. Im Sinne des Servicegedankens. Was natürlich jedes Mal schwieriger wurde, wenn ich wieder einem anderen Mitarbeiter zu einem anderen Getränkevorschlag zustimmte. Heute war der Mitarbeiter da, mit dem damals der große Showdown hinsichtlich der Aufklärung des Sachverhaltes stattfand, seitdem macht er mir einfach immer irgendein Getränk seiner Wahl, heute eben: Lebkuchen-Latte.)

    Jedenfalls, während ich wartete, las ich in der Zeitung, die dort auslag, und darin war ein Artikel über Starbucks (Vorsicht: Hasselhoff-Rekursion!), darin stand, dass in den USA (wo sonst) sich Personen über die diesjährigen Weihnachtsbecher bei Starbucks echauffieren. Diese sind nämlich sehr schlicht gehalten, rot mit Logo, kein sonstiges Zeugs drauf, wo früher immer Sternchen, Tannenbäume etc. waren. Und nun meinen offenbar Menschen, das käme dem Untergang des Abendlandes schon wieder gleich, überbordende political correctness, Verletzung des Rechts auf Rentier. Und um dem Laden dann mal so richtig eins auszuwischen, kaufen sie nicht etwa dort einfach nicht ein, nein, das nun nicht. Revolte darf nicht unbequem sein, also: jedenfalls nicht für einen selbst. Und so sagen sie zuckersüß zu den Barristas: "Schreib ma Merry Christmas auf den Becher!" Der oder die Barrista macht das dann, dann posten diese Leute ein Foto im Internet (vermutlich: auf Facebook) und haben gewonnen. Und ein bisschen die Welt (naja, das Abendland, aber das ja das einzige, das zählt) gerettet, mit überteuertem Kaffee in einem Pappbecher, auf den jemand mit Edding statt Mark mit C einen Weihnachtsgruß geschrieben hat.

    Jedenfalls, während ich da stand und auf den Kaffee wartete und las und mir dachte, so bekloppt sind die auch nur in den USA, kam tatsächlich einer rein und wollte auf seinen Becher "Frohe Weihnachten" geschrieben haben. Ich dachte erst, ich halluziniere, aber da war er, ein mittelalter Herr in brauner Cordhose und blauem Hemd und schwarzer Daunenweste, der vielleicht extra für diese Gelegenheit zum ersten Mal in seinem Leben einen Starbucks-Laden aufsuchte. Und schon da sagte ich nicht: "Haben Sie völlig den Verstand verloren?! Wenn ich auch mal grad den Stift haben darf, mal ich Ihnen gern noch was Hübsches auf die Stirn." sondern lächelte milde, nippte am Lebkuchenlatte und schüttelte mich kurz und unmerklich, um den Mitarbeiter nicht zu enttäuschen.

    Ich glaube, ich bin einen Moment abgeschwiffen, zurück zum Thema:

    Trotz meiner tiefenentspannten Prädisposition ging ich also zurück in die Kantine (vorher aß ich noch die Knödel auf) und sagte: "Entschuldigung, in meinem Essen war ein Stück Plastik." Die Kassiererin verdrehte die Augen und entriss mir die Packung mit einem beherzten "geben Sie mal her!", wohl in der festen Erwartung, dort eben einen Fitzel vorzufinden. Angesichts des Aliens blieb ihr Blick kurz starr. Dann schaute sie mich an und öffnete ein paar Mal den Mund, aber ohne Ton.

    "Ist doch nicht so schlimm", sagte ich ghandiesk. "Kann ja mal vorkommen. Besser als Fingernagel in Schwarzwälderkirsch." Die Kassiererin machte ein leises Würgegeräusch. "Das war nicht hier!!", beeilte ich mich hinterherzuschieben.

    So besprachen wir dann freundlichst dies und das - dass das Geld leider nicht zurückgebucht werden kann, weil ich mit einem Voucher gezahlt hatte, welche sonstigen Probleme es noch alle gibt derentwegen alles höchst schwierig ist, warum ich die Klöße gegessen habe und nicht sofort gekommen bin, wie schwer es die Kassiererin jetzt hat, meinetwegen, und ich blieb die ganze Zeit sehr, sehr freundlich. Bis die Kassiererin sagte: "Dann nehmen Sie sich jetzt am besten einfach eine neue Portion Rotkraut, dann ist das aus der Welt!". Da verfiel ich kurz in mein anderes Selbst. Aber wirklich nur ganz kurz. Es war dann nicht mehr so nett, aber effektiv.

    Nun. Ich muss schließen. Wer zum Kraulschwimmkurs will, muss sich jetzt vorbereiten, und sei es mental.

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