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    Dienstag, 8. Juli 2014
    Blogging November - 981

    "Ich bin um 7:30 Uhr aufgewacht, da habe ich gerade noch gehört, wie er die Tür zugezogen hat", sagt Kians Vater der Polizei. Was für Kleidung der Sohn trägt, weiß er nicht - er ist erst um 5 Uhr von der Nachtschicht gekommen und Kian hatte ihn morgens nicht geweckt. Der Viertklässler macht sich morgens oft allein fertig, wenn der Vater nach der Arbeit schläft und die Mutter schon beim Frühdienst ist. Meistens geht er zusammen mit dem großen Bruder los, sie fahren gemeinsam den Berg hinunter, dann muss der Bruder nach rechts zum Gymnasium und Kian weiter geradeaus zur Grundschule, aber an dem Tag hat der Bruder hat bei seiner Freundin übernachtet.

    Dass Kian fehlte, fällt in der Schule gegen 8 Uhr auf. Er ist nicht in dem Raum, in dem er sein soll, aber eine Entschuldigung liegt im Sekretariat auch nicht vor. Deshalb werden die Eltern angerufen, die aber wissen lassen, dass ihr Kind rechtzeitig zur Schule aufgebrochen ist.

    Es ist der erste Tag der Projektwoche und zunächst geht man davon aus, er habe sich versehentlich einem falschen Projekt angeschlossen. Die Schulleiterin unterbricht deshalb ihr Gespräch mit mir und fordert Kian per Lautsprecherduchsage auf, sich im Sekretariat zu melden. Gespannt lauschen wir auf das Klappern der Tür, das aber leider ausbleibt. Kein Kian. Nach fünf Minuten wiederholt sie die Durchsage, wieder ergebnislos. Zwischenzeitlich telefoniert die Sekretärin die Lehrer ab, die ein Projekt außerhalb des Schulgeländes betreuen. Doch keiner von ihnen hat ein überzähliges Kind dabei.

    Die Freunde von Kian werden nun aus ihren Projekten geholt. Sie haben Kian morgens im Hof nicht gesehen und machen darauf aufmerksam, dass auch sein Fahrrad nicht an der üblichen Stelle am Zaun steht.

    Einer der Schulsozialarbeiter ist auch mit dem Fahrrad da und fährt Kians Schulweg rückwärts ab. Vielleicht hat Kian ja einen Platten und ist nun zu Fuß unterwegs. Kians Eltern verständigen die Polizei, die Schulsekretärin telefoniert die Krankenhäuser ab.

    Dann beginnt das Warten.

    Ich habe mitgeholfen, die verschiedenen Projekte noch einmal persönlich abzuklappern, und in den Toiletten, der Cafeteria und der Turnhalle nachzuschauen, ob das Kind vielleicht doch irgendwo versteckt ist. Nun gehe ins Büro, für mich gibt es dort letzendlich nichts zu tun. Es kann natürlich tausend ganz harmlose Erklärungen dafür geben, dass Kian zwischen 7:20 Uhr und 8:00 Uhr - zwischen zu Hause und Schule - vorübergehend verschwunden ist. Aber Gedanken mache ich mir schon. Ich kenne das Kind nicht, aber die Klassenlehrerin sagt, die Familie sei absolut zuverlässig und sie hält es für sehr unwahrscheinlich, dass Kian schwänzt. Auch auf sein Projekt hat er sich sehr gefreut.

    Endlich, um kurz nach 11 Uhr, schickt die Schulleiterin mir eine SMS: "nur ganz kurz: alles gut."

    Heute morgen bin ich unsicher, ob ich nachfragen soll, wie sich die Sache gelöst hat - es geht mich ja eigentlich nichts an. Der Sozialarbeiter kommt aber direkt auf mich zu und erzählt mir von der Verkettung von Ereignissen, die zu Kians "Verschwinden" geführt haben:

    Zuerst einmal wachte Kian morgens relativ früh auf. Er konnte nicht wieder einschlafen, weil eine Mücke in seinem Zimmer summte. Deshalb ging er in das Zimmer seines Bruders, der ja bei seiner Freundin war, und legte sich dort ins Bett. In diesem Bett hörte er seinen Wecker nicht und verschlief.

    Kians Bruder war auch spät dran. Er stürmte gegen 7:20 Uhr in die Wohnung, weil er eine Jacke brauchte. Er sah Kians Schulbrot noch auf dem Tisch liegen, rief nach dem Bruder, dass er losmüsse und schaute in Kians Zimmer. Das Bett war leer, der Bruder also offenbar ohne sein Brot zur Schule gegangen und auch ohne Fahrrad - vielleicht, weil es regnete. Der Bruder nahm also das Brot und das Fahrrad, weil er beides selbst gut brauchen konnte. Um 7:30 Uhr zog er die Tür hinter sich zu. Der Vater war von diesem Geräusch aufgewacht, fand weder Kian in seinem Bett noch das Brot in der Küche oder das Fahrrad vor dem Haus, und ging deshalb davon aus, dass es Kian war, der um 7:30 das Haus verlassen hatte.

    Kian lag aber die ganze Zeit im Bett seines Bruders. Dort fanden ihn die Eltern irgendwann mitten am Vormittag friedlich schlafend, als sie vom Computer des Bruders ein aktuelles Foto für die Polizei ausdrucken wollten.

    Mannmannmann.

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