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    Dienstag, 8. Mai 2012
    Blogging November - 189

    A propros Traumata.

    Ich habe da ein kleines Ding mit kleinen Insekten. Und zwar habe ich im Kindergartenalter einmal bei einer Freundin übernachtet, die in so einer Wohnung wohnte, wie es sie damals im Ruhrgebiet (vielleicht auch anderswo, das weiß ich nicht) häufiger gab: eine normale Wohnung mit Küche, Bad, 1-2 Zimmern und dann über den Hausflur hinweg noch zwei kleine Zimmer, die Kinderzimmer. Bei meinen Eltern im Haus gab es das auch, dort hieß es "Gesellenzimmer", unten im Haus war eine Bäckerei, darüber verschiedene Wohnungen und eben zwei Gesellenzimmer für die Gesellen, die am Mittagstisch des Bäckermeisters mitaßen. Die Toilette war eh im Treppenhaus und im Gesellenzimmer war ein Handwaschbecken, duschen/baden ging man in der Badeanstalt, so hat Papa N. es mir erzählt, der dieses Gesellenzimmer bis zu seiner Hochzeit mit Mama N. bewohnte.

    So eine Wohnung war es und eins der kleinen Zimmer gehörte meiner Freundin und eins ihrem Bruder, der Bruder war älter und hatte einen Fernseher und abends schaute er einen Film und wir schauten heimlich durch die einen Spalt weit geöffnete Tür mit. Bei dem Film handelte es sich - das habe ich mir Jahre später ergoogelt - um Phase IV. Die Handlung ist recht einfach: Ameisen mutieren und fressen alle anderen Lebewesen auf.

    Ich entwickelte daraus ein ziemliches Problem mit kleinen Insekten, dass noch in derselben Nacht begann, mit Alpträumen von Ameisen nämlich, die meine Hand und meinen Kuschelhund auffraßen und leider auch nicht mehr weggingen. Es folgten sehr unruhige Nächte für meine Eltern, viele davon, ich erinnere mich an Ameisenstraßen auf meiner Bettdecke, auf dem Fußboden, auf meinen Armen, auf meinen Eltern. Meine älteste Schwester tauschte dann mit mir das Bett - wir teilten uns ein Hochbett und sie versicherte mir glaubhaft, dass es den Ameisen absolut unmöglich sei, ihre Krabbelfüße auf die obere Etage des Hochbettes zu setzen, es sei völlig ausgeschlossen. Sie hatte recht, dort war ich in Sicherheit und dort harrte ich aus wenn ich nachts aufwachte, bis in der Küche immer gegen 3 Uhr morgens das Licht anging, weil Papa N. dann zur Arbeit musste. Er schaute nach uns, sah mich wach im Bett sitzen, hob mich heraus und wir kontrollierten die ganze Wohnung auf Ameisen. "Keine da", sagte er, aber das stimmte nicht, sie waren überall, und so saß ich mit angezogenen Beinen auf der Bank neben dem Ofen und aß Joghurt, während er seine Arbeitssachen zusammenpackte. Richtig erklären konnte ich das alles nicht, dazu war ich vermutlich einfach noch zu klein und den Film hatte ich auch längst vergessen, aber irgendwann kamen die Ameisen auch tagsüber und dann wurde der Kinderarzt eingeschaltet und es gab kleine blaue Pillen.

    Ob die blauen Pillen wirkten oder ob sich im Gehirn irgendwelche Selbstheilungskräfte aktivierten, ich weiß es nicht, aber die Ameisen wurden weniger, wurden zu einem gelegentlichen Alptraum, und traten schließlich an Platz zwei hinter einen neuen, häufigeren Alptraum, von Saurons Auge nämlich, zurück, das ich immer dann sah, wenn ich die Augen ganz lange ganz fest zusammenkniff. Probieren Sie das mal aus, da sieht man doch wirklich ein gruseliges Auge! Der Herr der Ringe hat mir übrigens im Grundschulalter die Schwester vorgelesen, die mir vorher noch so fürsorglich ihr oberes Hochbett überlassen hatte.

    Letztendlich waren aber sowohl die Ameisen als auch Saurons Auge unter Kontrolle, es blieb nur ein Problem mit gehäuftem Auftreten kleiner Tiere. Dann kam es zu einer unfreiwilligen Reizkonfrontationstherapie: Mit etwa 16 Jahren holte ich eine große, eingelagerte 5 kg-Dose Tierfutter vom Dachboden. Und sie kam mir schon so merkwürdig leicht vor, dass ich mich beim Öffnen wirklich gut darüberbeugte, ja fast den Kopf hineinsteckte, um auch alles ganz genau sehen zu können, als ich die Dose öffnete. Futter war nicht mehr viel darin. Lebensmittelmotten dann auch nicht mehr, die flogen nämlich in einer dunklen Wolke in mein Gesicht, verfingen sich in meinen Haaren und saßen später in jeder Ecke meines Zimmers. In der Dosen waren nur noch ziemlich viele Larven.

    Es gibt ja diese Momente im Leben, in denen man sich entscheiden muss: verliert man jetzt den Verstand oder nicht. (Jetzt nicht frech werden!). Ich ging aus dem Zimmer, schloss vorsichtig die Tür hinter mir, wusch mir die Haare und teilte meinen Eltern mit, es gäbe ein Problem. Den Rest der Motten übernahm Mama N. und den Rest der Kleintiere-in-großen-Mengen-Problematik übernahmen die Mehlwürmer etwa weitere zehn Jahre später. Seitdem könnten Sie mich insektentechnisch ruhig ins Dschungelcamp stecken, das wäre alles gar kein Problem. Ich kann mittlerweile sogar Krabben essen, wenn sie halt irgendwo mit drin sind.

    Nur mit den Ameisen ist es so eine Sache. Ich habe mittlerweile Phase IV noch zweimal angeschaut (und bin beide Male dabei eingeschlafen) und Empire of the Ants gelesen. Und trotzdem: manchmal sehe ich aus dem Augenwinkel zwei, drei Ameisen die Wand neben mir hochkrabbeln. Ich weiß dann, dass sie nicht da sind. Ich weiß dann aber auch, dass es an der Zeit ist, insgesamt ein bisschen langsamer zu machen.




    Heute vor zig Jahren:

    Nichts besonderes.

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