Am 29. Januar bin ich beim Friseur. Ein Kunde kommt herein und niest - "es ist aber nicht dieses Corona!" sagt er und alle lachen. Corona ist was recht Neues, ich verfolge die Zahlen in China seit ein paar Tagen, auch aus beruflichen Gründen, aber ansonsten ist das Thema in meinem Alltag noch nicht angekommen.
Am 30. Januar verabreden wir einen Karaoke-Termin für den 21.3. unter Twitterern aus drei Bundesländern.
In den nächsten Wochen stelle ich eine neue Mitarbeiterin ein, habe ein internes Audit, spiele Ukulele und korrespondiere mit Prinz Hamdan und dann haben wir ja auch noch den Sturm Sabine, der dann doch keiner war und ich gebe ein (sehr kleines) Gesangskonzert.
Am 23. Februar bin ich in Düsseldorf beim Karneval, der Umzug wird wegen Sturm abgesagt, Corona ist eher kein Thema. Ich habe meine Eltern seitdem nicht mehr gesehen. Am selben Wochenende verreist mein technischer Support im Büro über den Atlantik.
Am 26. Februar ist Fragmente zum Bloggen bei mir zu Hause, wir sind vorher noch einkaufen und an diesem Tag ist es mir bis dato zum letzten Mal gelungen, die von mir präferierte Toilettenpapiersorte zu kaufen.
Am 27. Februar nimmt das Thema Corona bei mir im Büro weiter an Fahrt auf. Ich lasse die Vorräte an Desinfektionsmitteln überprüfen.
Am 28. Februar sage ich morgens meine Teilnahme am Chorkonzert am 15.3. ab - ich habe nämlich seit 19.1. wegen einer Erkältung keine Stimme und nun auch voraussichtlich in den nächsten Wochen wegen ständiger nächtlicher Pandemiediskussionen, Überbeitung der Vogel- und Schweinegrippepläne und allgemein unübersichtlicher Situation keine Zeit zum Üben. Ich bin aber zuversichtlich, dass ich in der Ostermesse mitsingen kann und mache beim Konzert dann halt den Kartenverkauf.
Am Abend fahre ich Mademoiselle zum Sport und ich will während ihres Trainings "kurz was einkaufen" - dieser Plan scheitert, denn an diesem Abend finden die ersten Hamsterkäufe hier in der Gegend statt.
Am 2. März wären wir zum Büro-Karaoke verabredet gewesen, sagen es aber ab, weil einige TeilnehmerInnen krank sind und die anderen kein so richtig gutes Gefühl dabeihaben. Sowieso habe ich auch immer noch keine Stimme.
Am 5. März beraten wir wegen einer Reise nach München Ende März. Soll sie stattfinden oder nicht? Ich teile mit, dass ich tiefenentspannt bin und fest vorhabe, die Reise anzutreten.
Am Nachmittag desselben Tages überlegen wir, ob eine Mitarbeiterin, die gerade in Südtirol im Urlaub ist, nach dem Wochenende wieder ins Büro kommen darf, denn von dort werden gerade erste Infektionsfälle gemeldet. Wir entscheiden, dass ja.
Vom 6.-7. März bin ich auf einem Seminar in NRW. Ich fahre Zug (und habe noch immer kaum Stimme). Am Vorabend erscheint mir die Situation etwas unklar, ich frage daher Freundin C., ob sie mich im allergrößten Notfall - also falls der Zugverkehr eingestellt wird und ich keinen Mietwagen bekomme und auch sonst keine Lösung finde - dort abholen würde. Nicht am selben Tag, aber auch nicht erst in einem halben Jahr. Das würde sie. Ich packe 1x Unterwäsche zusätzlich ein und bin mir sehr unsicher, ob ich total vernünftig bin oder lächerlich überreagiere.
Am Vormittag wird Südtirol zum Risikogebiet erklärt. Ich rufe noch aus dem Zug die Mitarbeiterin dort an und sage ihr, dass sie die nächsten zwei Wochen doch nicht ins Büro kommen kann.
Während des Seminars werden wir angehalten uns häufig die Hände zu waschen und zu desinfizieren und nach Hause zu fahren, falls wir uns krank fühlen. Am zweiten Seminartag wird ein Teil von NRW vom RKI zum Risikogebiet erklärt - ich bin aber in einem anderen Teil.
Corona ist nun das neue Smalltalk-Thema, sowohl im Rahmen des Seminars als auch im Restaurant und im Zug.
Am 10. März beraten wir über den Twitter-Karaoketermin, kommen aber zu dem Entschluss dass das (ist ja nur mit 4 Personen) schon noch geht. Außerdem frage ich nach, ob das Chorkonzert tatsächlich stattfinden soll? Es soll. Ich fühle mich dabei nicht wohl, habe aber den Kartenverkauf nun einmal versprochen. Erwäge allen KäuferInnen "Flieht, Ihr Narren!" zuzurufen.
Am 11. März wird das Elsass vom RKI zum Risikogebiet erklärt. Eine Mitarbeiterin ist dort gerade bei ihrer Familie. Ich rufe sie an und teile ihr mit, dass sie nach Rückkehr noch zwei Wochen zu Hause bleiben muss.
Abends bin ich mit einer Freundin zum Essen verabredet. Wir sind die einzigen im Lokal und es fühlt sich sehr komisch an. Wir überlegen beim Abschied, ob wir uns umarmen und entscheiden, dass ja. Das war die letzte Verabredung für mehrere Wochen und die letzte mit Körperkontakt bis heute.
Am 12. März spreche ich morgens mit meinen Eltern darüber, dass sie besser die nächsten Wochen zu Hause bleiben und wie wir das organisieren können.
Später am Tag habe ich eine Sitzung mit dem Betriebsarzt und der Fachkraft für Arbeitssicherheit. Es ist ein Thema geplant, das mir unbequem ist, ich habe daher die Idee, um Aufschiebung dieses Themas und statt dessen Beratung in Bezug auf den Infektionsschutz zu bitten. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit und der Betriebsarzt halten das Infektionsschutz aber für komplett überbewertet, unsere Maßnahmen seien sowieso schon weit über dem Notwendigen und nach 5 Minuten drängen sie auf das mir unbequeme Thema. Die beiden sind die ersten, denen ich nicht mehr die Hand gebe, mir kommt der Infektionsschutz hier gerade sehr gelegen. Meine Kollegen schütteln die Hände noch.
Am Mittag wird das Chorkonzert abgesagt, ich bin erleichtert. Die Ostermesse und alles drum herum entfällt damit auch.
Auch am 12.3. beschließen Frau Fragmente und ich, die Blogtermine ab jetzt virtuell stattfinden zu lassen. Und auch am 12.3. sage ich die München-Reise ab und verkünde im selben Kreis, dass ich Home Office bei uns definitiv nicht sehe.
Am 13. März wird Mademoiselles Schule (und auch alle übrigen Schulen in Hessen) geschlossen. Am selben Nachmittag schicke ich eine Kollegin, die nun ein Kinderbetreuungsproblem hat, als Versuchskaninchen ins Home Office.
Ich frage an diesem Abend auf Twitter "Und, was habt ihr heute so gemacht?" Aus einer Laune heraus, weil ich mal was anderes lesen möchte als Corona-Aufregung. Aus diversen (und wechselnden) Gründen stelle ich die Frage bis heute täglich.
Am 14. März sage ich den Twitter-Karaoke-Termin ab.
Das ganze Wochenende über bin ich damit beschäftigt, MitarbeiterInnen und/oder ihre Familienangehörigen aus anderen Ländern zurückzuholen, denn teilweise wird der Flugverkehr eingestellt, teilweise werden Grenzen geschlossen, teilweise herrscht einfach Chaos. Der technische Support meines Büros hängt auf der anderen Seite des Atlantiks fest.
Vom 17.-19. März lasse ich das Büro räumen. Das sind rund 60 Personen, von denen rund 40 noch nie von außerhalb des Büros gearbeitet haben und auch keine Firmenlaptops oder Firmenhandys haben - natürlich haben wir auch keine 40 Geräte einfach mal so irgendwo im Lager. Ich lasse alle Beziehungen spielen, die ich in den letzten Jahren aufgebaut habe, fordere alle Gefälligkeiten ein und frage nicht mehr nach Genehmigungen.
Am 18. März fühle ich mich zum allerersten Mal in meinem Leben beruflich komplett überfordert. Abends hält Bundeskanzlerin Merkel eine Fernsehansprache: die Maßnahmen gehen nicht so weit, wie wir befürchtet hatten, wir werden das Bürogebäude weiter ohne Einschränkungen betreten können. Das nimmt etwas Druck aus unserer Räumung, denn: was wir vergessen können wir ja später noch holen.
Am 19. März sind alle zu Hause und bis auf drei Personen - von denen zwei im Urlaub sind - von dort aus arbeitsfähig.
Das Osterfest mit meinen Eltern sage ich ab.
Vom 17. März bis 4. April arbeite ich eigentlich komplett durch. Irgendwann Ende März befindet sich auch der technische Support wieder auf dem selben Kontinent wie das Büro. Konkrete Erinnerungen habe ich an diesen Zeitraum nicht; wenn ich nicht arbeite, schlafe ich. Manchmal schlafe ich im Auto ein, wenn ich Mademoiselle abends irgendwo abhole in den wenigen Minuten zwischen meiner Nachricht "ich bin da" und bis sie dann zum Parkplatz kommt. Manchmal denke ich auch, ich schaffe es nur noch bis zu Haus, nicht mehr bis in die Wohnung und möchte mich auf die Straße legen und schlafen. Dann beschließe ich, dass das so nicht geht und arbeite ab da nur noch etwa 12 Stunden am Tag. Alle MitarbeiterInnen sind jetzt von zu Hause arbeitsfähig und in irgendeiner Weise an das Firmennetz angebunden. Ich sage alle Veranstaltungen bis Sommer ab, die Schule sagt alle Fahrten für das Schulhalbjahr ab.
Am 8. April lasse ich mir von Mademoiselle die Haare schneiden. Wird gut!
Vom 10. April bis 19. April habe ich Urlaub und freue mich sehr darauf, ich habe eine Million Pläne, die ich zu Hause umsetzen möchte. Vom 10.-16.4 habe ich Migräne, am 16.4. endete mein Urlaub ungeplant sehr abrupt und ich arbeitete ab da wieder durch. Immerhin treffe ich am 17.4. zum ersten Mal wieder eine Freundin, zu einem Spaziergang, mein Hauptthema dabei wohl die Jammerei über die lästige Maske, die ich an diesem Tag zum ersten Mal trage. Ansonsten erinnere ich diesen Zeitraum auch nur sehr verschwommen.
Ab dem 27. April beschränkt sich der Job dann endlich auf die üblichen 8 Stunden am Tag. Sofort werde ich ungeduldig mit jammerigen und unlogischen Personen und die ganze Coronasache geht mir unglaublich auf die Nerven. Dafür entwickele ich eine gewisse Routine, backe viel, sortiere viel zu Hause aus und reduziere den Stapel des Grauens.
Ab dem 6. Mai planen wir die stufenweise Rückkehr ins Büro, erfragen Präferenzen, treffen Vorbereitungen, kommunizieren Maßnahmen.
Am 7. Mai gehe ich zum Friseur (vor Friseur keine Rückkehr ins Büro, das hatte ich dem nOC als Fakt mitgeteilt) und danach ins Büro, um einige Dinge dort abzustellen und einige andere mitzunehmen. Ich bin beeindruckt, wie gut die Personen dort schon mit Abstand und Masken umgehen können; ich selbst kann das noch nicht so gut und vergesse die Maske mehrfach auf dem Weg zum Aufzug. Ich beschließe, dass ich öfter rausgehen muss, um das einzuüben.
Um den 11. Mai herum werden die Details zur "Schulöffnung" ab dem 18.5. bekannt. Die meisten Schulen, auch die von Mademoiselle, bieten eher halbtags Unterricht an und auch das nur manchmal. Mademoiselle wird bis zum Beginn der Sommerferien im Juli noch an 7 Tagen Schule haben und dann für jeweils drei Schulstunden. Für uns ganz persönlich ist das lediglich amüsant; beruflich wird auch das noch ein Thema sein das mich länger beschäftigt, denn ich habe einige MitarbeiterInnen mit Kindern, die noch nicht den ganzen Tag allein bleiben können.
Am 15. Mai packe ich abends ich das Home Office zusammen, um ab Montag ins Büro zurückzukehren.
Heute 17. Mai, kann ich berichten, dass ich mich an die Maske gewöhnt habe. Stört mich nicht mehr. Gestern nach dem Einkaufen vergaß ich sogar, sie abzulegen.
Wie sehe ich die Situation gerade, was sehe ich für die nächsten Wochen, was plane ich?
Ich finde die Rückkehr in die Schule für 7 Tage mit jeweils 3 Stunden komplett unnötig.
Die Rückkehr ins Büro habe ich mitentschieden und halte sie aktuell für unbedenklich. Wir haben kein Großraumbüro sondern einzelne Räume mit der Möglichkeit, Fenster zu öffnen. Etwa 1/3 aller MitarbeiterInnen kann zu Fuß oder mit dem Rad ins Büro kommen, bei einem weiteren großen Teil können die Arbeitszeiten flexibel gehandhabt werden, so dass sie volle Bahnen hoffentlich vermeiden können. An sehr wenigen Stellen geht das nicht, da müssen wir überlegen (aber da sind wir noch nicht, im ersten Schritt kommen nur die zurück, die das selbst möchten).
Die fehlende Kinderbetreuung wird ein Problem sein, eine pauschale Lösung wird es, denke ich, in diesem Jahr nicht mehr geben. Wir werden das individuell regeln müssen, das wird noch schwierig.
Ich hoffe und glaube, wir werden gut über den Sommer kommen und dann im Herbst vermutlich nochmal alle nach Hause schicken. Deshalb möchte ich mich in den nächsten Wochen mit allen in Ruhe besprechen. Ich möchte wissen, was aus ihrer Sicht gut lief, was nicht, was sollte anders sein, was hätten wir besser machen können, wo hat es gehakt, wo habe ich zu wenig hingeschaut, was habe ich schlicht übersehen. Es war keine Zeit, viel zu denken oder zu fragen zwischen dem 17.3. und dem 27.4. Das ist okay so, wir haben in der Zeit etwas bewerkstelligt, was noch eine Woche zuvor niemand für möglich hielt. Aber jetzt ist Zeit zum Fragen und zum Reflektieren und das möchte ich nutzen, um bei einer zweiten Welle noch stabiler zu stehen.
Was ich persönlich anders machen würde: schwer zu sagen. Ich kann mir keine Maßnahme vorstellen, durch die es unnötig geworden wäre, die Wochen ab Mitte März bis Ende April einfach durchzuziehen. Alles, was ich gemacht habe, musste gemacht werden und war nicht aufschiebbar und nicht delegierbar.
Nach dem 27.4. hätte ich schneller eine gesündere Routine finden sollen, da saß ich dann nach der Arbeit nur noch atemlos herum, statt regelmäßig Spaziergänge zu machen, Bücher zu lesen, Kontakt zu Freunden aufzunehmen. Das würde ich beim nächsten Mal besser planen, denn ohne Planung komme ich aus so einer starrend-herumsitz-Situation nicht gut heraus.
Vielleicht noch ein Nachsatz: was hat geholfen in dieser Zeit? Hauptsächlich, glaube ich, flexibel zu bleiben, einfach in der Situation zu schwimmen. Sich nicht zu versteifen, sondern auch immer wieder umzuentscheiden, wenn die Parameter sich eben geändert haben.
Es hat definitiv auch geholfen, ein Netzwerk aufgebaut zu haben, ohne wäre das alles nicht möglich gewesen. Und eine gewisse Integrität, die bewirkt, eben nicht alles erklären und begründen zu müssen sondern zu sagen "wir brauchen das und zwar jetzt sofort, warum kann ich gerne in einem ruhigen Moment erklären, aber der ist nicht jetzt."