Ich weiß nicht mehr, warum ich in der 9. Klasse - weder aus politischen noch aus geografischen Gründen jedenfalls - Russisch gewählt habe. Der Lehrer war ein alter 68er, er hatte einen Doppelnamen und trug immer selbstgestrickte Socken und Pollunder; außerdem war er sehr energisch und engagiert. Diverse Male lud er uns alle zum Abendessen bei sich ein, jeder sollte eine selbstgekochte russische Speise mitbringen, zu der er vorher Rezepte verteilte, jedes Mal hatte ich irgendwas mit Buchweizen oder Petersilienwurzel und es schmeckte immer sehr schlimm, dazu gab es an allem interessierte Fragen des Lehrers, die, je später der Abend fortschritt, in flammende Monologe übergingen: "Sie müssen für etwas brennen, finden Sie sich, demonstrieren Sie, leben Sie!".
Er war vermutlich ein guter Lehrer. Wir waren, glaube ich, auch ziemlich gute Schüler, mehrmals nahmen wir jedenfalls an Sprachwettbewerben teil, deutschlandweit, und einmal gewannen wir, was den Lehrer so mitnahm, dass er den Ort des Wettbewerbs in unbekannte Richtung verließ und uns dort vergaß. Das war ja alles noch, bevor es Handys gab. Das Organisationskommittee fand uns aber beim Abschließen der Halle wartend im Regen, brachte uns zum Bahnhof, legte Geld für Fahrkarten vor und setzte uns in den richtigen Zug nach Hause, alles kein Problem, und als wir den Lehrer am nächsten Tag in der Schule sahen, entschuldigte er sich viel, umarmte uns noch mehr und das alles unter Tränen.
Zweimal gerieten wir aneinander. Einmal, weil ich meinem Sitznachbarn vorgesagt hatte, da wurde der Unterricht abgebrochen und es gab einen Vortrag, dass es ihn zum einen kränkt, dass wir ihn besser kennen müssten als zu glauben, dass man sich gegen ihn zusammenschließen muss, und zum zweiten, und das viel schwerwiegender, dass ich dem Sitznachbarn die Möglichkeit genommen habe, seine eigenen Fehler zu machen, was eine Bevormundung darstellte. Aus heutiger Sicht ein Ansatz, den ich durchaus nachvollziehen kann, jedoch funktioniert die Dynamik zwischen 9.-Klässlern und Lehrern meiner Erfahrung nach einfach nicht auf diese Art.
Das zweite Mal war ein paar Jahre später. In der letzten Klassenarbeit hatte mich das Thema sehr interessiert und ich hatte versucht, gut zu schreiben, gut im Sinne von stilistisch ansprechend. Das Resultat war ein etwas zu großer Schuh, inhaltlich sehr gut und auch sprachlich verständlich, aber durch viele danebengegangene sprachliche Feinheiten eine drei. Ich fand, dieses Unterfangen lohnte nicht und beschloss, in der nächsten Klassenarbeit auf Nummer sicher zu gehen, die ging um irgendwas von Tolstoi, das mich sowieso nicht gefesselt hatte. Ich schrieb also simpelste Satzkonstruktionen ohne jedes Risiko. Der Lehrer tobte: "Ich möchte diese Klausur zerreißen! Sie wissen, sie enthält keine Fehler, aber sie enthält auch sonst nichts, nichts, keine Inspiration, keine Seele, gar nichts, diese Klausur ist eine Respektlosigkeit gegenüber der Sprache und ein Verbrechen an Ihren Fähigkeiten! Ich weigere mich, sie zu benoten." Mir klingeln heute noch die Ohren davon.
Und dann gab es noch die Sache mit Pigi. Das muss ungefähr in der 10. Klasse gewesen sein, es war nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem ich 5 Sprachen (inklusive Deutsch) als Fach in der Schule hatte, und an einem absurden Wochentag kamen sie alle hintereinander. Das erwies sich als problematisch - einmal schrieb ich in grandioser Sprachverwirrung in einer 7. Stunde eine Spanischklausur, zwar schon auf Spanisch, aber komplett in kyrillischer Schrift. Das war meine einzige 5 jemals, ehrlich gesagt ist mir unklar, warum es keine 6 war.
Mit Pigi war es so - es wurde irgendwas auf Russisch vorgelesen, vielleicht ein Text, vielleicht eine Grammatikübung, jedenfalls kam darin jemand oder etwas aus Riga, из Риги heißt das auf Russisch, man spricht es ungefähr "is Rigi", ich bekam aber die Buchstaben plötzlich nicht mehr komplett auf die Reihe und las "is Pigi". Der Lehrer fragte nach, ich wiederholte felsenfest überzeugt: "Pigi!"
Der Sitznachbar kringelte sich schon vor Lachen, vorsagen durfte ja aber auch keiner. "Pigi?", fragte der Lehrer. Ich schaute genau hin, merkte, das stimmt was nicht, verbesserte "Pugu!" und noch während ich es aussprach war plötzlich alles wieder klar, hihi, Pigi, Pugu, ich musste lachen, der neben mir lachte ja auch schon so sehr, dann die hinter mir. Ich versuchte, den Satz jetzt noch einmal richtig zu lesen, der Anfang ging gut, aber als "aus Riga" kam, erlitt ich einen schlimmen Lachanfall, ich versuchte es ein, zwei weitere Male aber konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Alle lachten mittlerweile, nur der Lehrer nicht, er wollte dann den Satz einmal korrekt laut sagen aber dafür reichte dann auch seine Beherrschung nicht. Niemals mehr konnte in dieser Gruppe die Stadt Riga genannt werden, ohne dass ein Kichern losbrach.
Es gibt diese Geschichten, sie sind eigentlich gar nicht so lustig, aber wenn man dabei war und sich an sie erinnert, hat man schon wieder dieses Zucken im Zwerchfell. Und so ist es bei mir eben mit Riga. Pigi. Pugu. Hihi.
Dieses Posting ist für Violinista. Ihr habe ich mal von Riga erzählt, weil ich so lachen musste, als sie mir Whisky aus Lettland anbot. Und aus unerklärlichen Gründen - vielleicht lag es am Whisky - fand sie die Geschichte ebenfalls unglaublich lustig, ganz ohne dabei gewesen zu sein. Seitdem tutsie immer wieder Gelegenheiten auf sie weiteren Personen zu erzählen. Die sie dann aber - wenig überraschend - nur mäßig spaßig finden.
Morgen möchte sie einen neuen Versuch starten und bat daher um die Story noch einmal im Original. Ich fürchte, es wird ihr nicht helfen, aber das wird sie uns dann vielleicht übermorgen selbst berichten.