Der kritischste Moment in meinem Tagesablauf ist der, an dem ich nach der Arbeit im Erdgeschoss aus dem Aufzug steige. Das liegt daran: es gibt vier Aufzüge, auf jeder Seite zwei. Auf der Fahrt nach oben ist unproblematisch: Man steigt unten irgendwo ein und kommt oben irgendwo an, findet dann zu beiden Seiten Glastüren die in jeweils einen Flur führen. Beide Flure kann ich in so gut wie alle Richtungen nutzen, um zu meinem Büro zu gelangen, ich kann jedenfalls einen guten Grund finden, aus dem ich eine Richtung eingeschlagen habe. Ich möchte vorher meine Post mitnehmen. Ich möchte kurz mit der Rezeption sprechen. Ich möchte den kürzesten Weg nehmen. Ich möchte etwas in den Kühlschrank legen. Alles ganz einfach, für jede Richtung gibt es immer einen Grund.
Der Rückweg ist das Problem. Man tritt aus einem der Flure - je nachdem, wo man vorher noch kurz "Tschüss" gesagt hat - in den Aufzugvorraum und geht, ohne weiter nachzudenken, in einen der vier Aufzüge. Auf der einen oder auf der anderen Seite, wer weiß das schon, das kommt ja auch darauf an, von wo man kommt und welcher Aufzug zuerst da ist. Dann geht es nach unten, ein paar Sekunden innehalten, es öffnet sich die Aufzugtür und - voilà! Blackout. Völlige Desorientierung. Ich weiß nie, wirklich nie, in welche Richtung ich im Erdgeschoss gehen muss. Es gibt zwei Möglichkeiten, die eine führt zum Hauptausgang hinaus und ist die richtige, die andere führt zum Hinterausgang und ist für mich ein erheblicher Umweg.
Die Aufzugtür öffnet sich also, ich gehe hinaus und: nichts. Ein paar Schritte Spiel habe ich, aber nur wenige, dann stehe ich vor den nächsten Aufzügen. Es gilt also, sich in zwei, maximal drei Schritten zu entscheiden, in die eine oder in die andere Richtung abzubiegen. Und während andere aus irgendeinem Grund wissen, wo es lang geht, ob durch Lichtverhältnisse oder weil sie sich gemerkt haben, wo sie eingestiegen sind oder durch einen eingebauten Kompass, blockiert mein Gehirn und bringt mich ein eine Situation maximaler Schwäche. Jedes Mal. Die zwei Sekunden, die ich länger brauche, als alle anderen, spüre ich ganz genau. Erst die Verwirrung, wo ich lang muss, dann der Ärger, es schon wieder nicht zu wissen, dann die Belustigung darüber und plötzlich mit Sorge, dass dieser Zustand nun vielleicht anhält, sich auf andere Lebensbereiche ausdehnt, dass ich vielleicht jetzt immer jemand bin, der eben diese zwei kleinen Sekunden später dran ist als alle anderen: ab jetzt für alle Antworten zwei Sekunden länger brauchen, über Witze immer etwas zu spät lachen, wenn die Ampel auf Grün schaltet erst losgehen, wenn alle anderen schon in der Mitte sind. Für immer. Es passt erstaunlich viel in zwei Sekunden.
Als ich gerade fast anfange, zu schwitzen, ist aber alles klar. Da, wo es heller ist, ist natürlich der Vorderausgang, alles klar. Auf Wiedersehen. Bis zum nächsten Mal.
Heute vor zig Jahren:
Der Spanischunterricht ist verlegt worden und wir können den Raum mal wieder nicht finden, also fahren wir in die Stadt und gucken Klamotten an. Danach gehen wir Pizza essen.