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    Montag, 23. Januar 2012
    Blogging November - 84

    Warum ich mich so wenig über Vodafone aufrege – das liegt daran, dass ich mich noch über so viel mehr Dinge aufregen. Dass an Mademoiselles Schule beispielsweise ein 9,5-jährige Kind vorstellig geworden ist, neu zugezogen und nun natürlich hier schulpflichtig, das bisher komplett unbeschult ist, nicht alphabetisiert, nein, es kann auch nicht seinen Namen schreiben und erkennt weder Zahlen noch Buchstaben und spricht kein Wort Deutsch. Was macht man an einer Grundschule mit so einem Kind? Selbst die jetzigen Erstklässler haben da schon einen immensen Vorsprung, sie sprechen alle Deutsch und können, nach 6 Monaten Schule, bereits alle lesen und auch etwas rechnen. Zumal das Kind körperlich weit für sein Alter ist, das Wort „Vorpubertät“ fiel, setzt man diesen 9,5-jährigen nun in eine erste Klasse, die Kinder sind halb so groß wie er und ihm trotzdem weit voraus? Oder setzt man ihn in die vierte Klasse, in die er – vom Alter her – gehört, aber natürlich in dem halben Jahr, das nun noch vor der weiterführenden Schule kommt, keine Chance hat, sich irgendwie zu positionieren?

    Mademoiselles Schule ist auf die sogenannten „Seiteneinsteiger“ – das sind Kinder, die sehr wenig oder kein Deutsch sprechen und oft, nicht immer, erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben – recht gut eingestellt, es gibt eine Vorklasse. Bzw. es gibt sogar mittlerweile zwei Vorklassen, wenn auch das Budget nur für eine Vorklasse besteht, aber momentan kommen monatlich - ja, monatlich – ein bis zwei Seiteneinsteiger hinzu. Der überwiegende Teil aus der türkischsprachigen Region Bulgariens, Bulgarien gehört ja bekanntlich seit 2007 zur EU und die Möglichkeit zur Ausreise/Einreise besteht, wenn die Personen über eine Krankenversicherung verfügen und ihren Lebensunterhalt sichern können, denn Zugang zu Sozialleistungen haben sie in Deutschland noch nicht, die volle Freizügigkeit ist bis 2013 ausgesetzt. Die Personen, von denen ich spreche, sichern hier ihren Lebensunterhalt, indem die Herren morgens mit VW-Bussen auf irgendeinen Bau gefahren werden und die Damen zu Lokalitäten, wie sich z.B. eine gegenüber Frau Herzbruchs Wohnung befindet und wo sie der Prostitution nachgehen. Dafür kann die Familie dann mit 5-10 anderen Familien in irgendwelchen Wohnungen schlafen, immer mal wieder eine andere, tagsüber muss man da raus, die Kinder sind nachmittags in den Fußgängerzonen unterwegs. Es gibt gegenüber der Schule von Mademoiselle einige dieser Schlafwohnungen.

    Bezüglich der Krankenversicherung ist es so, dass es da eine kleine Lücke in der Logik der großen Politik zu geben scheint: natürlich müssen die Personen bei Einreise eine Krankenversicherung haben – überprüft wird das jedoch nicht, denn sie reisen ja nicht per Flugzeug ein sondern auf dem Landwege und, nunja, Schengen, die Grenzen sind offen. Und nun sind sie da und haben keine Krankenversicherung, das scheint nun ähnlich zu sein wie mit Drogen: man darf sie konsumieren, aber nicht besitzen. Und ohne Krankenversicherung dürfen sie nicht einreisen, aber wenn sie da sind, sind sie da, wenn ich das richtig verstanden habe. Wobei ich auch nicht denke, dass den Leuten mit einer Abschiebung geholfen wäre – ganz offensichtlich sind die Verhältnisse in ihrem Heimatland ja noch schlimmer als die Mehrfamilienschlafwohung pluls Schwarzarbeit aufm Bau plus Prostitution minus Krankenversicherung. Zurückschicken möchte ich da niemanden.

    Ohne Krankenversicherung bedeutet übrigens auch, dass die Kinder, die 1-2 Seiteneinsteigerkinder pro Monat, keinerlei medizinische Versorgung erfahren. Für Notfälle gibt es einmal wöchentlich eine Ambulanz am städtischen Klinikum. Ansonsten: keine Vorsorgeuntersuchungen, keine Zahnbehandlungen, keine Impfungen. Die Schule empfiehlt daher bereits, z.B. die Impfung gegen Hepatitis entgegen dem STIKO-Plan vorzuziehen.

    Nun liegt diese kleine Problem an einer Grundschule in einer kleinen deutschen Großstadt vermutlich völlig unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der großen Politik, die schöne allgemeine Gesetze macht und, naja, Kolleteralschaden ist immer. Man kann ja auch nicht wirklich sagen, dass diese Leute eine Lobby haben. Sollen sie doch zu Hause bleiben, ist vermutlich der Tenor.

    Aber mich regt das unglaublich auf, es regt mich sogar noch viel mehr auf als die Tatsache, dass an Mademoiselles Schule, die gerade umgebaut wird, seit Monaten kein Baufortschritt sichtbar ist und im Gegenteil immer weitere Mängel deutlich werden und als I-Tüpfelchen noch ein Matratzenlager im Keller gefunden wird, auf dem der gesamte Bauarbeitertrupp morgens um 11 Uhr schläft, denn die gehen nachts noch einer bar bezahlten Nebentätigkeit nach, und es regt mich kaum auf, dass das meine Steuergelder sind und auch Ihre Steuergelder, sondern es regt mich auf, dass auch das bisher niemand bemerkt hat, keine Bauleitung, kein Projektleiter, niemand.

    Inkompetenz wohin man blickt. In der Stadtverwaltung (die Baugesellschaft ist irgendwie eine städtische Holding oder so, natürlich, fragen Sie mich nicht nach Fachbegriffen sonst muss ich brechen), in der Politik, und - das lässt mich dann wirklich nur noch mit den Schultern zucken – eben auch bei Vodafone.

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