Frau Fragmente sitzt auf einer Bank, hinter ihr ein Küchenkaufhaus, und bloggt. Ich sitze auf einem Stuhl, hinter mir verschiedene Personen in einer Outdoor-Gastronomie und blogge über Frau Fragmente.
Der Tisch wackelt.
Frau Fragmente sieht aus, als sei sie frisch beim Friseur gewesen, das trifft aber nicht zu. Sie war vor zwei Wochen beim Friseur und zu dem Zeitpunkt habe ich das Kompliment versäumt. Heute fällt es mir dafür besonders auf und Frau Fragmente bestätigt, dass ihre Frisur regelmäßig zwei Wochen nach Friseurbesuch am besten aussieht. Das ist heute. Es findet sich nun also erneut bestätigt, dass ich nicht auf Formalia sondern auf Qualität reagiere und ich denke, damit können wir alle zufrieden sein.
Wir haben gerade eine Vorspeisenplatte gegessen und ich hoffe, das Thema ermüdet nicht, aber es zeigte sich dabei erneut, wie unterschiedlich Frau Fragmente und ich sind. Als serviert wurde, legte sie nämlich sofort fest, was sie isst und was nicht. Ich sehe das eher so: wenn ich eine gemischte Platte bestelle, esse ich, was da drauf ist und zwar, bis ich satt bin. Auch, wenn es etwas ist, das ich nie bewusst bestellen würde. Fischartiges und Meeresgetier zum Beispiel. Auf der Platte war ein (ehemaliges) Lebewesen mit dünnen Beinen und Stabaugen, man musste Kopf und Schwanz vor Verzehr separieren. Nie im Leben würde mir einfallen, so etwas zu bestellen, aber wenn es da ist, wird es eben gegessen. Es schmeckte okay. Fehlte etwas Salz. Eine andere Zubereitung sah aus wie eine frittierte Mozzarella-Kugel, bestand aber aus Fisch. Unten war ein Stück zum Festhalten vorgesehen, das entpuppte sich als Krebsschere. Was den Leuten alles einfällt!
Frau Fragmente kommentierte: "Mir würde es ja nie einfallen, etwas zu essen, das ich nicht mag, nur um irgendwem oder mir selbst etwas zu beweisen." Das sehe ich generell anders, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, etwas zu beweisen, nutze ich sie. Das Essen hatte damit aber nichts zu tun, ich wusste ja gar nicht, ob es mir schmecken würde und wie soll ich das erfahren, ohne es auszuprobieren? Ich glaube, wir betrachteten die Situation aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln.
Vorher hatte ich Frau Fragmente in einer zwischenmenschlichen Angelegenheit um Rat gefragt. Der Rat kam prompt, kompetent und überzeugend. Frau Fragmente entschuldigte sich dann aber für ihren Tonfall, der, so nahm sie an, belehrend geklungen habe. Auch hier wieder ein Missverständnis: ich werde äußerst gern von kompetenten Personen belehrt. Problematisch finde ich nur inkompetente Belehrungen.
So unterschiedlich, wie wir sind, ist es verblüffend, dass Frau Fragmente und ich uns so gerne treffen. Vielleicht ist es die Faszination des Fremden. Hoffentlich nicht die Faszination des Grauens.
Frau Fragmente trägt Bürokleidung, das T-Shirt ist heute etwas leger, wenn ich das so sagen darf. Ich trage meine neue Lieblingsbluse. Ich habe diese Bluse nun insgesamt dreimal bestellt, davon zweimal überrascht und enttäuscht zurückgeschickt, weil sie schon nach dem ersten Waschen begann, Fäden zu ziehen. Das Geld wurde mir erstattet. Ein paar Tage später stellte ich im Büro fest, nunja - also ich stellte fest, dass die Wölbung meines Bauches manchmal so auf die Schreibtischkante trifft, dass die Ecken der Leitz-Plastikmappen, in denen ich häufig Unterlagen gereicht bekomme, den Stoff meines Oberteils streifen. Diese Ecken sind recht scharfkantig und versursachen Schäden an empfindlichen Stoffen. Verblüffenderweise ungefähr genau an der Stelle, an der die schönen neuen Blusen zweimal begannen, Fäden zu ziehen. Ich habe sicherheitshalber umgehend ein Verbot von Plastikmappen in meinem Raum ausgesprochen. Langsam verstehe ich den alten Oberchef, dem man nur Unterlagen mit Plastikbüroklammern geben durfte, weil er mit den verzinkten "schlechte Erfahrungen" gemacht hatte. Welche Art schlechter Erfahrungen wurde nie offenbart, aber vielleicht handelte es sich auch hier um Erfahrungen aus dem Bereich "Garderobe".
Frau Fragmente schreibt weiter konzentriert. Ich hingegen brauche gerade ein wenig Ablenkung, habe daher meine Schuhe für Twitter fotografiert und auf Twitter geschaut, was Leute so verdienen und mir mental eine Abwerbeliste dazu angelegt. Der Kellner hat eine Kerze gebracht und von irgendwo links neben mir riecht es nach bratendem Fleisch, evtl. hat jemand irgendwas auf einem heißen Stein bestellt. Heute trinken wir beide, Fragmente und ich, Cola light (bzw. Pepsi light), wobei sie vorher einen alkoholfreien Cocktail hatte und ich ein alkoholfreies Hefeweizen. Aus der Cola habe ich gerade eine halbe Limettenscheibe gefischt. Mir ist völlig unklar, woher der Drang der Leute kommt, immer irgendwelches Obst oder Kräuter in Getränke zu werfen. Ich möchte das grundsätzlich nie, weil es mein Mundgefühl stört, oder wenn, dann möchte ich mir den Geschmack zumindest aussuchen können. Es wird ja ganz wahllos hineindekoriert, dabei ist es doch wohl ein Unterschied, ob man in das Glas Eiswürfel oder Limette oder Zitrone oder Minze wirft, das kann mir doch niemand erzählen, dass es darauf nicht ankäme. Wenn ich Kaffee bestelle kippt ja auch nicht schon ungefragt jemand Milch oder Kondensmilch oder Zimt oder Vanillesirup hinein, warum entgleitet die Gastronomie derart bei Softdrinks und insbesonders bei Wasser? Gerade bei Wasser verstehe ich es nicht, das bestelle ich ja, wenn ich möchte, dass es nach nichts schmeckt. Hinzufügen von Zeug widerspricht per se dem Grundgedanken der Wasserbestellung. Das regt mich alles sehr auf.
Frau Fragmente schreibt nicht mehr, sie denkt und denkt und denkt, dabei hält sie ihr Endgerät nun in der Hand (statt es auf dem Tisch aufgestellt zu haben, die Tastatur davor), sie verzieht den und und scrollt und kratzt sich am Kinn und tippt mit dem Zeigefinger. Vielleicht recherchiert sie was. Worüber schreibt sie bloß? Ich habe vergessen, zu fragen, meist verrät sie es aber ja sowieso nicht. Aus Spaß habe ich jetzt gefragt und Frau Fragmente sagt "Das willst du JETZT wissen?", ich sagte "Ja" und sie "Ich sage es Dir natürlich". Darauf musste ich sehr lachen, denn tatsächlich ist darauf ihre Antwort zu etwa 50 % "Das sage ich Dir nicht!". Heute sagte sie es mir also, sie ist auch schon fertig, weil sie so einen tollen Schlusssatz gefunden hat und redigiert gerade. Noch so ein Unterschied zwischen uns, ich redigiere nie, also: im Blog nie, beruflich natürlich schon. Der Grund: es ist mir zu langweilig, wenn ich einen Text geschrieben habe, verliere ich umgehend das Interesse daran, weil ich ja alles schon weiß, was da steht. Weist mich hingegen jemand auf Tippfehler hin, verbessere ich sie gern (bei Hinweis 1-5), genervt (bei Hinweis 6-10) und alle weiteren Hinweise würde ich ignorieren. Das menschliche Gehirn ist ein Superding, es kann wohl über ein paar Tippfehler hinweglesen.