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    Dienstag, 21. Juli 2020
    Entführung ins Serail

    Die virtuelle Büropartnerin war heute verschollen. Also eigentlich natürlich nicht, aber in meinem Kopf. Das kam so: ich brauchte Hilfe bei der Formulierung einer Trauerkarte und schilderte gerade die Begleitumstände, als sie sich vorbeugte und "Moment, der Kunde kommt gerade, ich bin mal weg!" sagte. Das muss so gegen 14 Uhr gewesen sein schätze ich? Dann war sie weg. Und blieb weg. Erstmal nicht so ungewöhnlich, es war ja ein Arbeitstag, die Mittagspause um, ich wunderte mich nur ganz wenig, eigentlich nur, weil ich "ich bin mal weg" als "ich bin mal eine Weile weg und helfe dir dann umgehend mit der Karte!" interpretiert hatte, aber nicht als "ich bin für den Rest des Tages weg, sieh halt zu, wie du klarkommst". Das hatte ich aber halt einfach falsch interpretiert, dachte ich mir.

    Nun war ich aber am Abend nochmal privat mit der virtuellen Büropartnerin verabredet, zusammen noch mit der Dritten im Bunde, zur Bearbeitung des Alltagsstapels. Nun muss man wissen: die virtuelle Büropartnerin ist da so ein bisschen die Großmacht. Immer schon ein paar Minuten vor dem Termin schickt sie den Zugangslink, man fühlt sich immer ein wenig in Zugzwang.

    Heute aber waren wir anderen zwei allein, bzw. erstmal war niemand da, ich schickte fragende Nachrichten, die ohne Antwort blieben, dann waren wir zu zweit und so perplex, dass wir beschlossen, das zu tun, was in Schocksituationen das beste ist: erstmal was essen. Wir vertagten uns auf eine Stunde später.

    In dieser Stunde überlegte ich genau, was geschehen sein könnte. Ich hatte dazu sehr, sehr viele Ideen und möchte nur die wahrscheinlichste hier teilen: Der Kunde kam, er wurde mir bisher als durchaus seriös beschrieben, man weiß aber ja, was Corona mit den Leuten macht. Vielleicht hatte er Furcht vor dem nächsten Lockdown, den er ohne kompetente Unterstützung verbringen müsste, und hatte sich daher für Kidnapping entschieden. Wenn man genug Geld hat ist das ja einfach umzusetzen und kann schnell wie eine rationale Lösung erscheinen, insbesondere, wenn man für angenehme Verhältnisse sorgt (Suite, Pool, weitläufiger Park etc.), die die Freiheitsberaubung nicht ganz so schwerwiegend erscheinen lassen. Das konnte ich mir sehr gut vorstellen. Vielleicht würde man der virtuellen Büropartnerin sogar das Handy zurückgeben, wenn sich in ein paar Tagen ein kleines Stockholmsyndrom manifestiert hätte - wer glaubt schon an Entführung, wenn Bilder mit Schirmchendrink an Gewässer oder grünen Wiesen mit Alpacas auf Instagram zu sehen sind?

    Ich jedenfalls schmiedete schon Pläne, wie man die Wahrheit herausfinden könnte ("Wenn du nicht jederzeit da weg kannst, trag im nächsten Post einen pinkfarbenen Bikini oder sag in die Kamera, dass der Limoncello dort viel besser schmeckt als dein eigener!") und auch, wie man eingreifen könnte (Rekrutierung der Twitter-Followerschaft der virtuellen Bürokollegin). Ich selbst hätte im Hintergrund durch kluge Rückschlüsse ihr Gmail-Passowort gehackt, um den genauen Standort des goldenen Käfigs ausmachen zu können.

    Ja, genau so, war das allerwahrscheinlichste Szenario in meinem Kopf. In Wirklichkeit war es dann einfach nur Arbeit und ein bisschen Stau. Schade.

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