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    Samstag, 11. Juli 2020
    Fortsetzung der Corona-Chronik

    Wie ging es weiter mit Corona?

    Am 18. Mai starteten wir die erste Rückkehrerwelle ins Büro, komplett freiwillig, nur die, die (aus den unterschiedlichsten Gründen) wollten. Das waren knapp ¼, ich war auch dabei und an den ersten Tagen war ich sehr überfordert von den “vielen” Menschen, von ihrer Körperlichkeit. Es sind mehr Sinneseindrücke, wenn einem jemand gegenübersteht als wenn er in einem kleinen Kästchen zu sehen und zu hören ist. Ich war mehrere Tage sehr angestrengt und sehr müde, besonders vom ständigen Reden, denn alle redeten viel mehr als sonst miteinander. Und ich musste immer und immer wieder über die Covid-Arbeitsschutzmaßnahmen reden, in alle Richtungen: warum dürfen nur 2 Personen in die Küche, die ist doch groß. Warum dürfen 2 Personen in die Küche, um Himmels Willen, das ist doch gefährlich! Müssen wir im Gang Maske tragen, warum müssen wir im Gang keine Maske tragen, warum trägst du eine Maske im Gang, soll ich in deinem Büro die Maske aufsetzen, soll ich in deinem Büro die Maske absetzen, winken wir uns zur Begrüßung zu, dürfen wir Besucher einladen, warum rennt ständig die Putzfrau herum, könnten wir nicht mehr putzen lassen und so weiter. Ich habe in diesen Tagen ganz massiv etwas erfahren, was eigentlich jeder weiß und was man ständig sagt: “man kann es nicht allen Recht machen”. In Bezug auf Corona kann das auf gar keinen Fall, weil hier eine Extremsituation auf die eigenen Vorerfahrungen trifft. Es ist unmöglich, das auf einen Nenner zu bringen, und die Herausforderung ist, die ganz unterschiedlichen Einschätzungen auszuhalten.

    M hat seit dem 18. Mai wieder Schule - also jeweils mittwochs von 7:45 Uhr bis 10:20 Uhr. Sonst nicht.

    Am ersten Arbeitstag war ich mit dem Auto zur Arbeit gefahren, um Akten zu transportieren. 19. Mai fahre ich mit dem Rad. Ich habe beschlossen, nicht S-Bahn zu fahren, weil: viel zu gefährlich. Ich habe auch beschlossen, weiter 2 Tage pro Woche von zu Hause zu arbeiten, um das Kind noch etwas zu beaufsichtigen.

    Am 22. Mai arbeite ich nochmal von zu Hause aus, am 26. Mai auch, danach nicht mehr, weil es mir einfach zu blöd ist. Sollte eine zweite Welle kommen, werde ich sie im Büro aussitzen. Mademoiselle fährt nun auch wieder überall mit dem Bus hin.

    Am 24. Mai treffen Herr N. und ich uns zum ersten Mal seit die Kontaktbeschränkungen begannen mit mehr als einer anderen Person, nämlich mit einer befreundeten Familie. Draußen, im Garten. Jemanden in der Wohnung zu besuchen kann ich mir noch nicht vorstellen.

    Um den 27. Mai herum wird bekannt, dass sich im Umkreis einer religiösen Veranstaltung in Frankfurt über Hundert Personen mit dem Coronavirus infiziert haben. Das ist für mich beruflich der Anlass, das Sommerfest abzusagen. Wir hatten bis dahin überlegt, es ist draußen, vielleicht ist im Juni/Juli mehr möglich. Aber wir wollen nach dem Frankfurter Bethaus nicht der Frankfurter Arbeitgeber sein, bei dem sich alle bei einer Feier infiziert haben. Die Presse kann man sich nicht leisten. Ich sortiere weiter die Arbeitsplätze im Büro auseinander, damit - auch wenn weitere Personen zurückkehren - möglichst jede*r ein einem Einzelbüro sitzt.

    Am 31. Mai besuchen Herr N. und ich eine Freundin in ihrer Wohnung, im Vorfeld fantasieren wir, dass wir natürlich auf dem Balkon sitzen werden aber tatsächlich sind wir die ganze Zeit drinnen.

    Am 2. Juni lassen wir die zweite Rückkehrerwelle ins Büro kommen, immer noch freiwillig. Ich bin über die unterschiedlichen Reaktionsweisen erstaunt: manche, die fußläufig ganz in der Nähe wohnen, möchten lieber noch zu Hause bleiben, während einige Zugreisende unbedingt zurück wollen. Aber wie gesagt, es sind unterschiedliche Einschätzungen aufgrund unterschiedlicher Vorerfahrungen. Das "Richtige" für alle gibt es nicht. Ich fahre ab Anfang Juni wieder ganz normal täglich mit der S-Bahn zur Arbeit.

    Am 12. Juni haben wir zum ersten Mal wieder Besucher im Büro. Eine kleine Gruppe und sie kommen abends, direkt über die Tiefgarage, was etwas lustig ist, denn es ist ja nicht der Zugang zum Bürogebäude das potentiell dumme Verhalten, das man verbergen möchte, sondern das Zusammensitzen im Besprechungsraum.

    Am 14. Juni kommt erstmalig seit März wieder Besuch in meine Wohnung - dann auch noch solcher, den ich nicht kenne, es sind Bekannte vom Gesangslehrer, der mein Wohnzimmer für einen Videodreh benötigt. Es ist etwas merkwürdig, nicht zusammenzusitzen aber wir überlassen die Besucher einfach im Wesentlichen sich selbst. Weil er schon einmal da ist, bietet der Gesangslehrer mir auch eine Unterrichtsstunde an, also live, normal machen wir das ja per Video. Ich überlege kurz: Singen scheint ja so ziemlich das blödeste zu sein, das man in Bezug auf Virusverbreitung machen kann. Aber der Gesangslehrer war nun sowieso schon in meiner Wohnung, ich habe große Räume und hohe Decken und eine offene Balkontür. Also machen wir die Gesangsstunde. Zum Karaoke würde ich aber keinesfalls gehen, in so einem kleinen Raum ist das etwas ganz anderes.

    Am 16. Juni installiere ich mir, ganz early Adoptress, die Corona-WarnApp.

    Am 18. Juni gehe ich erstmals wieder in ein Restaurant, zusammen mit Frau Fragmente. Wir sitzen draußen. Und am 21. Juni gehe ich mit einer Freundin in ein Eiscafé, auch da sitzen wir an Tischen draußen.

    Zusätzlich werde ich im Juni zeitweise recht angestrengt. Ich habe keine Bock mehr auf Corona, das ist mir alles zu mühsam, ganz besonders das ständige Gerede über Corona, die ständigen Ausreden augrundderkatuellensituation, ich bin an den Punkt, an dem ich denke “meine Güte ja, es ist, wie es ist, es muss nichts mehr darüber gesagt werden, macht halt und hört das Gejaule auf”. Erfreut stelle ich aber auch fest, dass sich mein Kalender langsam wieder füllt.

    Die nächste und letzte Rückkehrerwelle im Büro kommt am 22. Juni, es sind jetzt nur noch ganz vereinzelte Personen aus individuellen Gründen zu Hause. Wir sind damit in den Frankfurter Bankentürmen eher früh als spät, nicht die allerersten, aber vermutlich unter den ersten 20 %. Das liegt in weiten Teilen an unserer Bürostruktur: ich kann die meisten Personen einzeln setzen und nur sehr wenige sind zu zweit in ihrem Raum. Ich lerne sehr viel über Lüftungsanlagen in Hochhäusern.

    Am 26. Juni fahre ich mit Frau Fragmente Auto. Ich bin ganz erstaunt, dass sie das anbietet, schließlich ist das eine Begegnung auf recht engem Raum. Wir fahren zusammen zum Badesee, der seit ein paar Tagen geöffnet hat und natürlich herrscht auch dort Abstandsgebot und Maskenpflicht (an Ein- und Ausgängen und Verkaufsständen, im Wasser natürlich nicht). Abends gehen Herr N und ich mit einer Freundin in ein Lokal, um zu essen und zu trinken, aber wir haben einen Sitzplatz draußen reserviert.

    Am 27. Juni gehe ich zum Karaoke, mit Frau Violinista. Anschließend übernachtet sie bei mir. Neben mir sitzen möchte sie die ganze Zeit aber nicht, was ich ganz und gar eigenartig finde, denn nachdem wir 4 Stunden gemeinsam in einem ca. 6 qm kleinen Raum zusammen gesungen haben denke ich, auf den Abstand kommt es jetzt wirklich nicht mehr an. Aber auch hier gilt: jeder bewertet das Risiko anders und das muss man aushalten können.

    Am 29. Juni wollten Herr N, M und ich nach England fiegen, um Ms Austauschfamilie für da Schulhalbjahr ab September kennenzulernen. In Großbritanninen herrscht aber noch eine 2-wöchige Quarantänepflicht für Einreisende. Die Lufthansa streicht zum Glück die Flüge und so können wir die Reise kostenfrei stornieren.

    Im Juli werde ich mit der Maske nachlässig. Ich erwische mich dabei, wie ich sie gedankenverloren beim Einpacken der Einkäufe schon abnehme (weil ich die Handtasche schließen will), nicht erst am Ausgang des Geschäfts. Einmal setze ich sie an der Bahn auf, steige ein und setze sie dann ab, so, wie man eine Jacke ablegt. Einmal vergesse ich sie morgens gleich ganz zu Hause. Jedes Mal korrigiere ich mich hastig. Ich halte das für eine ganz normale Fehlerreaktion: wenn etwas ganz neu und aufregend ist, achtet man sehr darauf, wird es dann zur Routine und die Aufmerksamkeit lässt nach, kommt es zu Zwischenfällen, bis diese Routine sich endgültig eingeschliffen hat.

    In den ersten Julitagen gehe ich auch erstmalig wieder in ein Restaurant drinnen. Das ist so nicht geplant. Ich bin mit zwei Kolleginnen unterwegs und wir hatten uns verständigt, draußen zu sitzen. Nun ist es aber so, dass Sitzplätze draußen nur in der prallen Sonne verfügbar sind und deshalb gehen wir doch nach drinnen gehen. Dort ist es auch sehr leer. Allerdings nur für ca. 15 Minuten, dann bricht die kollektive Frankfurter-Bankenviertel-Mittagspause über uns herein und es wird voll. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nicht ganz angenehm.

    Am 9. Juli gehe ich abends mit einem Kollegen aus und vergesse Corona erstmals für mehrere Stunden ganz komplett. Weil es einfach keine Rolle spielt an dem Abend. Ich bin danach unglaublich erholt. Zusammen mit Corona vergesse ich an diesem Abend auch zum ersten Mal seit dem 12. März den täglichen Anruf bei meinen Eltern.

    Am 10. Juli wird der (für Anfang August geplante) Flug meiner Schwester von Schottland nach Deutschland gestrichen. Sie nimmt das als Anlass, die Reise komplett abzusagen. Das ist einerseits schade, andererseits waren wir alle schon in Sorge um den Schutz meiner Eltern, bei denen Sie während ihres Aufenthalts gewohnt hätte - es ist vielleicht so die bessere Lösung.

    (to be continued)

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