Die Leserschaft, also zumindest eine Person darunter, interessiert sich, warum ich Gesangsunterricht nehme.
Entscheidungen haben ganz selten nur einen Grund. Meist beruhen sie auf einem komplexen Gebilde an Faktoren, manche sind uns gegenwärtig, andere spielen unbewusst mit hinein. Die bewussten Faktoren bei mir waren folgende:
Erstens:
Ich singe schon immer gerne und viel. Es gibt in meinem Haushalt ein Tonband beschriftet mit "N. singt Weihnachtslieder, knapp 2 Jahre". Mit 4 Jahren quengelte ich so lange, bis meine Schwestern mich mit in den Chor nahmen und ich durfte dann sogar auch mitsingen. Ich habe später (mit anderen) in Fußgängerzonen, auf Weihnachtsfeiern in Altenheimen und auf Übernachtfähren gesungen und es fällt mir leicht, Töne zutreffen, mir Melodien zu merken und nicht durcheinander zu kommen wenn die Personen links und rechts von mir andere Stimmen singen als ich.
Zweitens:
M habe ich auch schon mit 4 Jahren in der Musikschule angemeldet. Erst zu "Musik für Mäuse", dann zu irgendwas anderem (hab ich vergessen), dann für Geige und immer wartete ich dann vor der Tür und hörte aus allen Räumen in der Musikschule mehr oder weniger schöne Klänge, aber eben musizierende Menschen und mit der Zeit entwickelte sich ein gewisser Neid: ich wollte auch Musik machen.
Drittens:
Eine Freundin entdeckte irgendwann vor mehreren Jahren die Karaokebar in Frankfurt und wir gingen gemeinsam in mittelgroßer Runde hin. Beim Singen fiel mir auf, dass meine Stimme leiser klang als die der meisten anderen, das konnte ich mir nicht so richtig erkären.
Viertens:
Eines Tages rief ich bei der Musikschule an und fragte, was für Unterricht parallel zum Geigenunterricht von M. läge - es gab aber in keinem Unterricht zu dieser Zeit freie Plätze. Daher rief ich bei einer anderen Musikschule an und fragte, was ich dort abends ab 19 Uhr in Bezug auf Musik machen könnte. Die Antwort war: Schlagzeug, Violine oder Popgesang.
Violine hatte ich schonmal vier oder fünf Jahre gelernt und für nicht so mein Ding befunden. Schlagzeug und Popgesang fand ich ansprechend, Gesang eben um diesem Geheimnis der leisen Stimme auf den Grund zu gehen und Schlagzeug, weil ich noch nie Schlagzeug gespielt hatte. Ich konnte mich nicht sofort entscheiden aber traf auf dem Heimweg im Treppenhaus den Nachbarn, der unter uns wohnt. Was ist näherliegend, als den Nachbarn in diese Entscheidung einzubeziehen? Ich berichtete also und er sagte "Schlagzeug fände ich nicht so prickelnd".
Also Popgesang. Am nächsten Tag meldete ich mich an.
In der ersten Unterrichtsstunde fragte der Gesangslehrer, was mein Ziel des Unterrichts war. Ich hatte kein eindeutiges Ziel, alles, was ich wollte geht aus den vier Faktoren oben hervor. Der Gesangslehrer war erleichtert, seine größte Sorge ist es immer, dass jemand in eine Casting-Show gehen möchte.
Üben ist natürlich super - ich hatte es schon einmal hier in der Beschreibung einer Gesangsstunde geschildert, dass ich die einzelnen Komponenten, die zu gutem Klang führen, beherrsche, aber sie nicht und schon gar nicht einfach so aus mir heraus zusammenfügen kann. Das ist sicher etwas, das sich mit mehr Übung verbessern ließe. Mein Tagesablauf gibt das aber selten her, da Singen eben laut ist (das habe ich ja jetzt gelernt) und ich fast nie allein bin und selten in Situationen, in denen lautes Singen nicht stört. Songs, also die Texte, Melodien etc. kann man natürlich auch still für sich oder mit Kopfhörern im Kopf üben aber das ist nur ein Bruchteil dessen, was Gesangsunterricht ist, es geht ja nicht darum, einen bestimmten Song singen zu können sondern die Techniken zu beherrschen, alle möglichen Songs ansprechend zu gestalten. Wenn es gut läuft, komme ich 2x pro Woche dazu, für ca. 1 Stunde zu üben. Phasenweise aber eben auch überhaupt gar nicht. Das sage ich dem Gesangslehrer dann und wir stellen den Unterricht ein bisschen um, weniger Songs und mehr Stimmübungen, bis bei mir wieder eine bessere Phase kommt.
Verändert hat sich vieles seit der ersten Gesangsstunde - ich hatte wirklich keine Ahnung, dass sich so viel verändern würde. Zunächst einmal wurde das Geheimnis der "leisen Singstimme" gelüftet: da ich immer in Chören gesungen hatte, also klassischen Chören, hatte ich nur die Kopfstimme erlernt. Popgesang findet aber ja ganz wesentlich in der Bruststimme oder im Mix statt. Die Bruststimme mussten wir erstmal erarbeiten, ich konnte sie zuerst gar nicht absichtlich verwenden und dann, als ich sie gefunden hatte, konnte ich sie nicht kontrollieren. Das kann ich mir heute kaum noch vorstellen. Andere Veränderungen sind weniger tiefgreifend. Ich habe z.B. viel über Atmung gelernt (besonders in der Phase, als ich mir das Kreuzbein ausgerenkt hatte und gar nicht richtig Atmen konnte). Ich habe von Natur aus eine etwas metallische Stimme mit wenigen Tiefen, ich habe gelernt, sie mit mehr Hauch und einem Stimmsitz weiter vorn weniger kindlich-schrill und statt dessen wärmer und älter klingen zu lassen und das ganz klare, eisige gezielt einzusetzen. Ich habe gelernt, wie wichtig die letzten Silben sind und wie ich Vokale etwas verändern kann um in sehr hohe Töne besser einzusteigen und wie Bewegungen die Stimme stützen können. Die Range, in der ich mich beim Singen komfortabel fühle, hat sich enorm erweitert - wir sind gerade dabei, Songs, die ich ganz zu Anfang ausprobiert und aufgegeben habe wieder hervorzuziehen und ich kann bei vielen nicht mehr nachvollziehen, wo genau das Problem lag. Ein paar Mal hat sich meine Stimme auch ohne mein aktives Zutun verändert, einmal nach einer hartnäckigen Bronchitis, da stand mir nach unten plötzlich dauerhaft eine halbe Oktave mehr zur Verfügung und einmal eine lange Singpause während einer sehr anstrengenden Zeit, nach der ein paar Dinge die Atmung betreffend plötzlich normal geworden waren, so dass sich darauf aufbauend neue Features freispielen ließen. Wir entdeckten, dass ich ein großes Talent für Glissando habe, was an sich uninteressant ist aber ein leichtes Hineinrutschen in hohe Töne lässt meine Stimme auch wieder weniger schrill wirken.
Ich weiß gar nicht, wie lange ich jetzt schon Gesangsstunden nehme. 5 oder 6 Jahre vielleicht? Und es verändern sich immer noch Sachen, teilweise auch ganz überraschende. Meine Artikulation hat sich vor einem guten Jahr enorm verbessert, das war ungefähr zeitgleich mit dem Beginn meiner Italienischstunden. Für Italienisch benötigt man eine ganz andere Mundbeweglichkeit und Lippenspannung als für Deutsch und Englisch, und wenn ich daran denke, diese Beweglichkeit und Spannung zu nutzen, profitiert mein Gesang davon enorm. Ganz durch Zufall fanden wir neulich heraus, dass ich auch das Pfeifregister ganz gut nutzen kann, was für mich keinen Wert an sich darstellt (weil ich den Klang nicht mag) aber dazu führte, dass ich meiner Kopfstimme jetzt viel sicherer bin und Wechsel zwischen Brust und Kopf nun ganz mühelos verlaufen - interessanterweise nur in diese eine Richtung, von Kopf zu Brust nicht so mühelos.
Wenn ich im Alltag irgendwas singe - Happy Birthday im Büro z.B. - denke ich an all das natürlich nicht. So ganz langsam komme ich aber dahin, dass manche Dinge automatisch ablaufen, ohne dass ich daran denken muss, ich bin dann selbst immer ganz überrascht vom Klang meiner Stimme. Und ich bin gespannt, was sich da noch tut.