Gestern spätabends ereilte mich eine horrorfilmartige Situation in meinem Wohnzimmer: nämlich tropfte Blut aus der Wand. Dachte ich im allerersten Moment und bei Schummerlicht, und dann dachte ich, ach, natürlich, das Kind hat da wohl versehentlich mit der Tomatensoße gespritzt, und dann dachte ich, dass es doch eigentlich Apfelkuchen zum Abendessen gab. Damit war mein Denkprozess beendet und ich beschloss, es einfach wegzuwischen. Ich wischte es weg und es lief nach. Aus der Wand. Rostrot.
Sofort schoss mir durch den Kopf, dass eine Leiche in meine Wand eingemauert sein könnte - nicht allzu abwegig gegen Mitternacht, außerdem kennt man die Nachbarn doch nie so gut, wie man meint, und bei García Márquez war das auch so.
Agnostisch wie ich bin kam mir der Vedacht, dass es ein Wunder mit Jesus sein könnte, erst einige Momente später, dafür dann aber mit Wucht. Möglicherweise käme ein mystischer Fußabdruck zum Vorschein, würde man die Tapete abziehen. Das novemberregensche Wohnzimmer als Wallfahrtsort? Ich habe eine enge Beziehung zu Wallfahrtsorten. Mein Vater stammt aus einem sehr kleinen und sehr wenig frequentierten Wallfahrtsort, dort führt eine lange Schotterallee zu einer Kapelle und einem Brunnen. Auf der langen Schotterallee begann ich als Kind jedes Mal zu rennen und fiel jedes Mal hin, in dem Brunnen wusch mir mein Vater jedes Mal den Schotter aus den Knien. Falls Gläubige aus dem Brunnen getrunken haben und es leicht metallisch schmeckte, lag das wohl an mir und nicht an heiligen Blutspuren - dafür wird mein Knie wohl dereinst in den Himmel auffahren, halleluja.
Wallfahrt also, und die mitgebrachten Kinder würden sich auf unserem Flur als Rennstrecke ins Wohnzimmer die Knie aufschlagen? Sowieso war ich auch einmal in Santiago de Compostela und fand es nicht gut. Ich hatte mir diese Kathedrale immer kühl, dunkel, besinnlich, Ort der Ruhe und Ehrfurcht vorgestellt. Statt dessen trifft man am Ende des Jakobsweges auf eine Art überhitzten Indoor-Rummelplatz mit Blitzlichtgewitter, giggelnden Mädchen aller Nationen, Kitschverkäufern und Geruch nach Frittiertem. Das hätte ich ungern bei mir zu Hause.
Allerdings hatte ich bei dieser Überlegung schon den Finger in den Mund gesteckt - es ist eine schlechte Angewohnheit von mir, unbekannte Substanzen per Geschmack zu identifizieren - und es schmeckte nicht nach Blut. Wobei, was weiß ich denn schon wie jahrtausendealtes Blut schmeckt. Aber die Sache mit dem Wunder wurde doch immer unwahrscheinlicher, und deshalb begann ich, ein bisschen an der Wand zu knibbeln und: Es ist wohl so, dass der Malermeister kürzlich beim Renovieren auch das eine oder andere Loch, in dem früher ein Nagel steckte, mitüberstrichen hat. Zusätzlich hatte Mademoiselle gestern einen Unfall mit einem Wasserglas. In dem Loch vermischte sich rote Wandsubstanz mit Wasser, dann kam wohl noch irgendwie Physik dazu - Wetter draußen / Wetter drinnen, atmende Wände, jemand anders wird das besser erklären können - und zapp, eine blutende Wand.
Spannend, Antiklimax, aber doch auch ein wohliges Gefühl, einfach so weiterleben zu können wie bisher.