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    Mittwoch, 8. April 2020

    Frau Fragmente sitzt an ihrem Home-Office-Esstisch und bloggt, ich sitze an meinem Home-Office-Schreibtisch und blogge über Frau Fragmente. Ich habe beim Schreiben dieses Satzes schon 3 unterschiedliche Fehler gemacht (keine Tippfehler, Sprachfehler) und vier Mal statt e eine 3 geschrieben und weiß nun daher, dass ich vermutlich in den nächsten 24 Stunden einen Migräneanfall bekommen werden, auch wenn es mir im Moment absolut blendend geht. Das Gehirn ist ein faszinierendes Ding.

    Frau Fragmente sieht heute, hm, ich kann es nur uncharmant sagen: ein wenig vom Tag zerrauft aus. Ich weiß nicht warum, ich habe vergessen, es in unserem einleitenden Gespräch zu erfragen. Ich habe noch nichtmals gefragt, wie es ihr geht. Entschuldigend möchte ich anfügen, dass das daran liegt, dass ich nebenher noch Pizza backen musste, es ging sich zeitlich nicht anders aus. Und dabei gab es Verzögerungen, weil ich bemerkte, dass der Thunfisch aus ist und nun muss ich doch noch einmal einkaufen vor dem übernächsten Wochenende. Ich habe mir überlegt, dass ich das morgen früh mache, vor der Arbeit, ich werde dann so tun, als ginge ich zur Arbeit, ich zeihe mich also an, gehe zu Hause los, erst zur Packstation, dann zum Briefkasten, dann zum Supermarkt, dann zurück nach Hause an den Schreibtisch. So, als wäre ich zur Arbeit gegangen halt. Ich finde das eine hervorragende Idee, habe das Fragmente vorhin auch schon erzählt, sie sah mich längere Zeit an und schwieg. Ich dachte erst, das Bild wäre eingefroren, aber dann sah ich, dass sie blinzelte.

    Gerade fällt mir auf, dass ich Fragmente heute von der anderen Seite sehe als sonst. Vielleicht sieht sie gar nicht zerrauft aus sondern das ist nur ihre zerraufte Seite und die andere ist die zackig-professionell-schicke. Vielleicht habe ich das nur noch nicht bemerkt. Sie trägt heute auch nicht die Kette, die sie sonst immer trägt und eine Brille, die mir nicht vertraut ist. Man weiß echt doch immer viel weniger über die Leute, als man denkt.

    Neues in der Fragmente'schen Wohnung ist heute für mich nicht zu entdecken. Auch die Spülmaschine ist nicht im Blickfeld (evtl. hat sie deshalb die Kamera umgestellt?). Das Bücherregal kenne ich schon aus der Frontalansicht so gut wie auswendig, ich schaue mal gerade, ob sich irgendwas nennswert verändert hat: hm hm hm. Nein, ich denke nicht. Kein Blick auf den Schreibtisch möglich heute, im Hintergrund noch ein Stuhl, der Esstischstuhl, den Frau Fragmente beiseite geschoben hat, um statt dessen einen Schreibtischstuhl dorthin zu schieben. Sie haben keine Ahnung, wie viel ich über Schreibtischstühle gesprochen, ich gebe zu: diskutiert habe in den letzten Wochen. Über anderes Mobiliar auch. Ich bin irgendwann dazu übergegangen diese Gespräche abzukürzen, indem ich sage "Die Schwierigkeiten der Situation sind verstanden, ich kann dir anbieten, wieder vom Büro aus zu arbeiten."

    Huh, vom Balkon kommt jetzt frische Luft hinein aber mittlerweile riecht sie eindeutig nach Frühling, nach Pflanzen, nach Erde, nach lauwarmer Luft. Ich vermisse die Flugzeuge, die sonst alle paar Sekunden hier über das Haus fliegen und im Anflug wie Glühwürmchen aussehen.

    Bei Frau Fragmente hingegen scheint es warm zu sein (ich kann auch nicht sehen, ob die Balkontür offen steht), sie hat gerade mit einem lauten Rumms ihre Jacke (also so ein Oberbekleidungsjäckchen) ausgezogen und irgendwo hingeworfen. Offenbar hat sie sich in Wallung geschrieben, wir dürfen gespannt sein.

    Über Fragmente sehe ich übrigens in einem kleinen Videofenster mich selbst. Da schaue ich heute recht oft hin, ich habe nämlich frisch geschnittene Haare. Gestern kam eine Haarschere an, die ich bei Amazon bestellt habe, und heute schnitt Mademoiselle mir die Haare. Es ist erstaunlich gutgeworden - ich hatte insgesamt nur geringe Sorge, die Frisur war nämlich so herausgewachsen, dass es nicht mehr viel schlechter werden konnte, aber hatte eher mit einem Ergebnis gerechnet, das durchaus tolerabel aber ein bisschen lustig ist. Statt dessen habe ich eine völlig tadellose Frisur, die ich mir nur im Nacken etwas stärker durchgestuft und angeschrägt gewünscht hätte, aber das kriegen auch oft die Friseure nicht so hin, wie ich will. Ich bin wirklich sehr beeindruckt. Und zufrieden. Eine der Hauptsorgen des Lockdowns habe ich heute für mich gelöst.

    Es ist wirklich schade, dass ich nicht mehr über Frau Fragmente berichten kann heute. Ihre Haare sind auch sehr lang geworden. Sitzen aber noch gut, man darf sicher dazu sagen, dass sie auch einen dankbaren Schnitt hat, einen ganz leicht asymmetrischen Bob. Den kann man gut etwas wachsen lassen, ohne dass es gleich wild aussieht. Ich habe ja einen Undercut, das sieht schnell mal so aus, als habe man auf dem Kopf ein kleines, felliges Nagetier versteckt und mit dem längeren Haupthaar zu verdecken versucht. Unschöne Situation. Sehr interessiert beobachte ich ja auch PolitikerInnen in Bezug auf ihre Frisuren, wobei mein Interesse nachließ, als mir auf Twitter jemand sagte, die würden schon für ihre Auftritte noch gepudert und so und Maskenbildner könnten auch mal eben kurz nachschneiden. Seitdem schaue ich mehr die Leute in meinen Videokonferenzen daraufhin an. Wie machen die das wohl, war hat auch eine Fünfzehneinhalbjährige mit einem überraschenden Händchen für Kurzhaarschnitte daheim? Auch in dieser Hinsicht werde ich sicher noch viel lernen in der nächsten Zeit.

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