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    Donnerstag, 16. Februar 2017
    Gerahmt von Glitzer

    Heute Morgen ging ich durch eine kleine, schäbige Passage die neben einem McDonald's verläuft, ich bin lange Zeit nie durch diese Passage gegangen, aber ab und an beginnen meine täglichen Wege, mich zu nerven, und dann suche ich mir andere, so kam ich zu der Passage. Hinter dem McDonald's kommt ein Laden, der Strümpfe mit Löchern verkauft, jeden Morgen denke ich mir, haha, da hätte ich meine Socken neulich ja gar nicht wegwerfen müssen, haha und dann ärgere ich mich, dass mein Kopf jeden Morgen den selben Kalauer wieder auswirft (eventuell wechsle ich den Weg bald wieder). Kurz vor Ende der Passage erleuchtet die Sonne das Schaufenster gegenüber, die Jalousien sind noch heruntergezogen, ich weiß nicht, welche Farbe sie wirklich haben, aber im frühen Sonnenlicht glitzern sie golden, so golden wie Gold gehört, warm, von innen leuchtend, tief, weich, perfekt.

    An der S-Bahn-Station schlafen seit Beginnn des Winters auf den Bänken Obdachlose, erst hatten sie ein Sammelsurium an Decken und Pappunterlagen, seit kurzem haben sie alle die gleichen silbernen Isomatten und dunkelblauen Decken.

    Meine Kopfhörer versetzen mir neuerdings kleine Stromschläge ans linke Ohr. Erst wollte ich das nicht so ganz glauben, dachte, es kratzt eher irgendwas. Mittlerweile kommt es aber bei jeder Benutzung mehrfach vor, es ist überraschenderweise nicht ganz unangenehm. Trotzdem denke ich jeden Tag in der Bahn daran, dass ich mir neue Kopfhörer kaufen will. Jeden Morgen unter der Dusche denke ich auch daran, dass ich ein bestimmtes Shampoo kaufen will. Und jedes Mal, wenn ich Mademoiselle ermahne, das Bad hinter sich aufzuräumen denke ich daran, dass ich ihr auch ein bestimmtes Shampoo kaufen will. So geht das schon seit zwei oder drei Wochen. Wir kommen auch ohne neue Kopfhörer und Shampoos ganz gut zurecht, aber genauso, wie dieselben Wege und dieselben Kalauer, langweilen mich auch die sich täglich wiederholenden Einkaufsgedanken. Vermutlich werden sie sich daher bald in Handlung umsetzen. Genau gesagt jetzt in diesem Moment.

    (kurze Online-Shopping-Unterbrechung)

    Im Bus setze ich mich neben eine Frau mit vielen, vielen Locken und schließe dann die Augen. Ein "psssit psssit" ertönt, diese Geräusch bezeichnet exakt zwei Vorkommnisse: a) Frau Herzbruch verwendet Mundspray oder b) meine Mutter sprüht sich mit Loulou ein - bei meiner Mutter allerdings psssit psssit psssit psssit - psssit. Und dann shhhhhhhhhhhhhhhhsh, das Haarspray, das nur nebenbei. Aber Mundspray und der kleine Loulou-Flakon klingen exakt gleich. Ich hole durch die Nase Luft und sage mit weiterhin geschlossenen Augen "Sie tragen Loulou!". Psssit psssit psssit psssit psssit - das ist noch mehr, als meine Mutter verwendet. Pssssit. Ich habe ein bisschen Herzschmerz bei dem Geruch, definitiv kein Duft, den ich tragen würde, aber er ist so vertraut und neulich erst habe ich für meinen Vater ein Album mit Bildern aus seiner Jugend gemacht und die Eltern werden immer älter und ein Leben ist so schnell vorbei und lieber mache ich jetzt schnell die Augen auf und starre die Frau an, und die Frau starrt mich an. "Meine Mutter trägt auch immer Loulou" will ich sagen, aber die Frau ist etwa 10 Jahre jünger als ich und aus meinem Mund kommt "Meine äh Schwester trägt auch immer Loulou". Die Frau lächelt und bietet mir den Flakon an, ich sprühe mir einmal auf den Jackenärmel, ich mag Loulou wirklich nicht besonders und ich habe etwas Angst, dass uns beide gleich jemand am Kragen packt und aus dem Bus wirft und der Mann hinter uns stöhnt auch schon sehr laut aber sagt dann nur "Dieses Gehupe immer, dieses gottverdammte Gehupe!!" Und jetzt rieche ich nach meiner Mutter. Naja der Mantel.

    Am Brunnen in der Innenstadt steht eine Gruppe Männer in Bauarbeiterkleidung, einer trägt eine angezündete Stumpenkerze und geht freudig auf mich zu, in einer mir komplett unverständlichen Sprache (Bulgarisch?) erzählt er mir etwas, ich weiß nicht, worum es geht, aber er wirkt sehr glücklich. Ich lächele ihn an, er lächelt zurück, dann fällt er einem andern Mann, der seine Sprache spricht, in die Arme, beide klopfen sich gegenseitig auf den Rücken.

    "Was ist jetzt passiert?", fragt der Gesangsleherer, er sagt immer wieder, seit ich krank war sei ich so roh geworden, er meint glaube ich das englische raw, eher wund, aber wieso er das so meint weiß ich nicht. Meine Stimme hätte sich auch verändert dabei, sagt er, und findet das alles nicht schlecht.

    Im Dunkeln gehe ich nach Hause, es regnet, ich halte den Kopf gesenkt, damit nicht so viele Tropfen auf der Brille landen, ich habe auch auf dem Heimweg neulich meinen Weg geändert und der neue Weg führt mich durch eine Baustelle, das liegt daran, dass die andere Straßenseite so schmal und der Gehweg schräg ist, ungefähr 300 Meter geht es da auf einem engen Gehweg immer geradeaus ohne Querstraßen, das kann ich gar nicht leiden, also gehe ich neuerdings auf der anderen Straßenseite durch die Baustelle, der Asphalt ist sehr grob dort und das Regenwasser sammelt sich in zahllosen Minipfützen darin, durch die Autoscheinwerfer glitzern sie, es ist, als würde ich über einen Teppich aus Silbersternen gehen, und als die Ampel umschlägt werden die Sternchen alle rot von den Bremslichtern. Dann wieder silber, dann wieder rot. Und wieder silber.

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