Mademoiselle ist keins der Kinder, die gern Auto fahren, aber seit sie selbst lesen und Nintendo spielen kann, ist es erträglich. Was allerdings weiterhin sehr schlecht ist: wenn Mademoiselle im Auto Hunger bekommt. Nun bin ich keine Tuppermutter. Ich finde ganz generell, dass man in diesem Land immer irgendwo Essen kaufen kann und man daher für eine 7jährige keine Dosen mit Nahrung mitführen muss. Andererseits aber beträgt die Zeitspanne bei dem langen, dünnen Etwas zwischen "ich hab Hunger" und "mir ist schlecht" nur etwa 10 Minuten, zusätzlich wird der Punkt "ich muss spucken" im Auto noch bei etwa jeder vierten Fahrt erreicht. Es besteht also bei "ich hab Hunger" relativ dringlicher Handlungsbedarf.
Als Mademoiselle bei der gestrigen Autobahnfahrt nach etwa 150 km "ich hab Hunger!" äußert, fahren wir also die nächste Rastätte an und es geschieht zum zweiten Mal in einem Monat, dass ich an einer Raststätte keinen Parkplatz mehr finde. Was machen all diese Leute an Raststätten? Die können doch unmöglich alle unterzuckerte 7jährige Kinder haben, und gibt es einen anderen Grund, sich an Autobahnraststätten aufzuhalten? Egal, wir fahren weiter, die nächste Essensmöglichkeit ist sicher nicht weit. Doch da wird eine Vollsperrung ab Dreick Dernbach angesagt, und wo sind wir überraschenderweise gerade? Genau. Halsbrecherisch-elegant ziehe ich im allerletzten Moment auf die Abfahrt nach Irgendwo, jedenfalls nicht in die Vollsperrung, denn überall ist die Aussicht auf Essen größer als dort. Wir fahren nun auf einer anderen Autobahn, die sich sogar als recht passende Umleitung herausstellt. Eine Raststätte zeigt sich aber nicht. Erwartungsgemäß kommt nach etwa einer Viertelstunde "mir ist schlecht - ich gaube, ich muss gleich spucken...". Als letztes Mittel nehme ich die nächste Ausfahrt, die in irgendeinen Ort führt. Dort wird es wohl irgendetwas geben, und sei es ein Kaugummiautomat.
Wir fahren und fahren eine Landstraße durch trostlose Gegend entlang. Rechts geht es nach Kretz, links geht es nach Kruft, vielleicht malerische Ortschaften, vielleicht aber auch die bucklige pfälzische Verwandtschaft der saarländischen Flemm und Freck. Wir fahren geradeaus in ein Industriegebiet. Dort gibt es einen Supermarkt, der behauptet, ein Rewe-Supermarkt zu sein. Innen ist er aber temperiert wie ein Kühlhaus und es gibt auch eigentlich nur Fleisch: Drei Tiefkühltheken mit tierischem Gefriergut, eine Fleischtheke, eine Wursttheke, zwei Kühlregale mit Wurstwaren. Dazwischen recht verloren Waschmittel, Weichspüler und Kaffee. Wir sind die einzigen Kunden. Ich sage dem Kind, es solle sich etwas aussuchen. Es nimmt zwei Packungen Fleischwurst und eine Packung luftgetrocknete Mettwürste. Mir dreht sich der Magen um und ich nehme einen Schüttelkaffee aus dem Kühlregal.
Im Eingangsbereich befindet sich noch ein Bäcker, leider habe ich aber überhaupt kein Bargeld in der Tasche. An der Kasse frage ich, ob es in diesem "Rewe" die Möglichkeit gibt, beim Bezahlen Geld abzuheben. Die gibt es, aber erst ab einem Einkauf in Höhe von € 25. Dass ich für € 25 abgepacktes Fleisch einkaufe, um danach ein Brötchen erwerben zu können, ist völlig ausgeschlossen. Ich frage die Kassiererin, ob ich möglicherweise etwas einkaufen könnte, Waschmittel zum Beispiel, um es gleich darauf wieder zurückzugeben und Bargeld zu erhalten. Das könne ich, sagt die Verkäuferin. Sie bitte mich jedoch, es nicht zu tun.
Als wir hinausgehen, schenkt die mitleidige Bäckereiverkäuferin Mademoiselle einen "Kirschberliner" - ein Plunderstückchen mit einer Füllung aus angedickter Kirschmasse und dickem rosa Zuckerguss.
Wir setzen uns ins Auto auf die Rückbank. Es ist kalt. Mademoiselle braucht Hilfe mit dem Nintendo. Ich spiele ihr ein Level frei, während sie eine Packung Fleischwurst und vier Mettwürste isst. Dann beißt sie in den Kirschberliner, hält ihn mir mit spitzen Fingern hin und fragt: "Willst Du, Mama?". Mir wird von ihrem Wurstatem schlecht. Ich lehne ab und versuche, den Kaffee zu trinken, ohne durch die Nase zu atmen. Das ganze Auto riecht nach Wurst. Es fängt an zu regnen. Wir beobachten durch die langsam beschlagenden Scheiben die Leute, die im Gewerbegebiet zwischen Kretz und Kruft auf der Straße sind. Männer wie Frauen tragen Turnschuhe, Daunenwesten und Kurzhaarfrisuren.
"Wie findest du es hier", frage ich das Kind. "Naja", sagt sie, "es ist kalt und nicht so schön hier. Und es gibt nichts interessantes. Und die Wurst schmeckt nicht so gut. Können wir woanders hinfahren?" "Ja", sage ich. "Es gibt ein Wort für sowas. Dieses Wort ist 'desolat'". Mademoiselle nickt. Neue Wörter findet sie immer gut. "Desolat", sagt sie.
Wir fahren weiter. Ich murmele die nächsten 100 km "Kretz und Kruft" vor mich hin. Von der Rückbank murmelt es "desolat" in verschiedensten Betonungen.
Vielleicht fahren wir nächstes Mal doch wieder Bahn.
Heute vor zig Jahren:
Wir haben M&M aus unserer Klasse in der Spezialkneipe getroffen und hinterher Ah und Oh und Phil an der U-Bahn. Ah läuft jetzt in schwarzen Wave-Klamotten rum. Zusammen mit dem Flat sieht das etwas witzig aus.