Der Weg ins Büro in der Theorie:
7:30 Uhr entspannt die Wohnung verlassen, 7:31 ein Stockwerk tiefer das Zweitkind einsammeln, die Fahrräder aufschließen, zügig aber ohne Eile auf geradem Wege zur Schule radeln, dort um 7:40 eintreffen, den Kindern helfen, die Räder anzuschließen, noch einmal winken und zur Bahn weiterfahren.
Der Weg ins Büro in der Praxis:
7:29 die Wohnung verlassen. "Boah sind wir früh dran!" denken und sofort danach: "da können wir ja noch das Fahrrad von Mademoiselle aufpumpen!" Luftpumpe suchen. 7:35 die Wohnung verlassen, ein Stockwerk tiefer klingeln, das Zweitkind ist nicht fertig. Dem Zweitkind sagen, wenn es rechtzeitig nach dem Luft aufpumpen fertig ist, kann es noch mit. Im Hof pumpen, Tasche ablegen, pumpen, Schal ablegen, pumpen, Jacke ablegen, pumpen. Keine Veränderung am Rad. Die genaue Untersuchung der Luftpumpe ergibt ein Loch im Schlauch, der zum Ventil führt. Wieder in den 2. Stock laufen und die andere Luftpumpe suchen. In den Keller laufen und dort die andere Luftpumpe suchen. In den 1. Stock zum Zweitkind laufen und dort eine Luftpumpe erbitten - es wäre nicht wirklich so dringlich, die Reifen aufzupumpen. Aber Sie kennen das sicher, wenn man sich verbissen hat.
Das Zweitkind ist jetzt auch fertig. Die Nachbarin sucht eine Luftpumpe in ihrer Wohnung, in ihrem Keller, in ihrer Garage - nichts. Die Nachbarin fragt, ob sie auf ihrem Arbeitsweg die Kinder im Auto mitnehmen soll. Das Zweitkind steigt ins Auto, Mademoiselle will nicht. Das Zweitkind steigt aus dem Auto aus, Mademoiselle steigt ins Auto ein. Beide Kinder sind im Auto und fahren weg. Beide Ranzen und Sporttaschen stehen noch im Hof. Ich werfe die defekte Luftpumpe in den Müll und ziehe mich wieder an, das Auto mit den Kindern kehrt zurück. Beide Kinder steigen aus und steigen aufs Rad. Es ist jetzt 7:55 Uhr.
Fast noch tiefenentspannt fahren wir aus dem Hof. Am Baum vor dem nächsten Haus steht eine (vermutlich defekte) Salzkristalllampe. Beide Kinder steigen ab und bewundern die Lampe. Mademoiselle fällt vor Aufregung mit ihrem Fahrrad um. Die Lampe könnte der Feuerkelch sein, oder der Stein der Weisen. Wir wären Harry, Hermine und Neville (ich will immer Neville sein) und die Lampe wäre ein Bezoar. Vielleicht wären nachts Todesser oder Piraten oder Abenteurer dagewesen und hätten die Lampe vergraben aber es hätte geregnet und die Lampe wäre freigespült worden. Sicher waren Einbrecher im Nachbarhaus zugange und haben die Lampe gestohlen und, weil die Polizei kam, oder ein Detektiv, zurückgelassen. Das kindliche Leben ist voller möglicher Realitäten - die wahrscheinlichste jedoch, dass die Nachbarn das potthässliche Scheißding einfach nicht mehr haben wollten und vor die Tür geschmissen haben, ist im kindlichen Begriffsvermögen nicht angelegt.
Die Lampe muss mit. [Sie können hier noch eine mehrminütige Diskussion mit Schreien und den guten Argumenten allen samt und sonders auf meiner Seite einfügen, sie fand statt, sie ist aber irrelevant, denn das Ergebnis ist: s.o.] Die Lampe kann natürlich nicht mit zur Schule, sie ist zu schwer und vermutlich hat ein Hund draufgepinkelt (meine Meinung). Die Lampe muss in Haus oder Hof gesichert werden. Keines der Kinder kann die Lampe heben, geschweigedenn transportieren. Ich packe höchst entnervt die Lampe mit beiden Armen - sie wiegt ungefähr so viel wie Mademoiselle - weise die Kinder an, sich keinesfalls von der Stelle zu bewegen oder sämtliche Ranzen, Sportbeutel, Handtaschen aus dem Auge zu lassen und renne mit der Lampe zur Garage. Die Lampe ist schmierig, ich rede mir ein, das sei vom Tau. Ich werfe die Lampe in der Garage auf einen Sack Zement oder so - ich weiß nicht, wo er herkommt, aber er kommt mir gelegen. Ich renne zurück zu den Kindern, die bereits an dem Punkt sind, an dem die Lampe ein geheimnisvoller Meteorit wäre, der Ponys in Einhörner verwandeln kann. Die Kinder sagen, meine Jacke sei schmutzig - tatsächlich ist die gesamte Front meiner Jacke mit einer Salzkristall-Dreck-Tau(!)-Mischung beschmiert. Meine Hände auch. Meine Hände brennen, weil ich immer irgendwelche Schnittverletzungen an den Fingern habe und da nun Salzkristall-Dreck-Tau(!)-Pampe drin ist. Mein Gesicht juckt und ich kann mich mit meinen Händen natürlich nicht kratzen. An der zweiten Ampel droht der Tag sehr zu kippen, wird jedoch von Mademoiselle gerettet, die exakt die juckende Stelle an meiner Nase erwischt und kratzt.
Wir treffen um 8:10 in der Schule ein. Ich helfe den Kindern, die Räder anzuschließen. Ich laufe mit Mademoiselle in den 2. Stock ins Klassenzimmer und wasche mir dort die Hände. Und wasche die Jacke - glücklicherweise Leder - ab. Und erbitte ein feuchtes Tuch, mit dem ich die Fahrradgriffe reinigen kann.
Ich gehe zurück zu meinem Fahrrad, reinige die Griffe und nehme dabei starkes Deoversagen wahr. Irritiert schnuppere ich in meine Jacke, bemerke dann aber den Müllfahrer, der dichter als erwartet hinter mir steht, mir die Hand gibt und "Fahrrad wieder da! Gut!" sagt.
Dann fahre ich weiter zur Bahn.
Heute vor zig Jahren:
Ich warte morgens bis ich aufstehen muss, ich warte bis ich angezogen bin, ich warte bis ich gehen muss, ich warte bis die Bahn kommt, ich warte bis ich in der Schule bin, ich warte bis die Stunde um ist, ich warte bis die Pause um ist, ich warte bis die Schule um ist, ich warte bis die Bahn kommt, ich warte bis ich zu Hause bin, ich warte bis ich ins Bett muss, ich warte bis ich einschlafe, ich warte bis der Wecker klingelt.