Den ganzen Tag saß ich heute mehr oder weniger unbewegt (Ausnahme: Kaffeetasse oder Gabel zum Mund), denn ich plante Urlaub. Normalerweise plane ich Urlaub nicht allzusehr - Anreise und Unterkünfte ja, der Rest findet sich, ich weiß ja von hier aus nicht, was mir dort gefallen wird. Derzeit habe ich aber ja Bein Version 2, da muss ich etwas auf Entfernungen achten. Als höchst lauffreudige Person denke ich mir sonst bei plus/minus 5 km "eh wurscht", ich vermute aber, momentan sind 5 km eher das Tagesmaximum zu Fuß. Bein-Version-1-Reiseerfahrung bringe ich ja bereits aus Wien mit, nur ist Wien eine Großstadt mit Transportmitteln allenthalben. Cornwall ist da anders.
Und zusätzlich hat mich im letzten Urlaub enorm gestresst, dass Herr N und Mademoiselle quasi immer Hunger hatten und oder vielleicht nicht immer, aber immer, wenn es am Wenigsten passte, und bis es dann passte waren sie beide kaum noch zurechnungsfähig, so dass es schwierig war, sich auf ein Essen zu einigen. Ich bin da viel einfacher, mir geben Sie einfach einen Schokoriegel und alles ist wieder gut für die nächsten 2-3 Stunden. Aber Herr N und das Kind brauchen "richtiges Essen". Sehr lästig.
Also habe ich heute Entfernungen und Fußwege nachgeschaut, die Punkte, die mich interessieren, so auf die Tage verteilt, dass ich vielleicht nicht unbedingt am selben Tag hunderte Stufen auf eine Burg klettere, 2,5 Stunden durch eine Schlucht gehe und bei Ebbe über einen glibschigen Steg zu einer Burg im Meer trapse. Das muss besser aufgeteilt werden, nur eine solche Sache am Tag traue ich mir momentan zu. Also momentan noch nicht, naja die Stufen schon aber den Rest nicht, aber es sind noch etwa zwei Wochen bis dahin, da kann noch viel geschehen. Vorsichtshalber habe ich natürlich auch recherchiert, wo es überall Cream Tea gibt. Cream Tea ist immer ein valides Alternativprogramm.
Und als zweites habe ich dann eben Restaurants herausgesucht und auch gleich reserviert, so dass "richtiges Essen" zwar nicht immer sofort verfügbar ist, aber doch wenigstens immer absehbar.
Für mich eine völlig fremde Art zu reisen, aber ich glaube, das wird gut.
Also eines sage ich Ihnen: wenn man nach 10 Tagen Dauertragen einen Thrombosestrumpf ablegen und danach dann auch - nach 10 Tagen - duschen kann, dann hat man das Gefühl, den ganzen restlichen Tag in unermesslichem Komfort zu verbringen, völlig egal, was sonst noch so ist.
"Ich helfe, ich helfe!", ruft der eine Mann schon, als ich durch die hintere Tür in den Bus steige und er schiebt alle anderen Leute aus dem Weg und lotst mich zu einem Vierersitz. Da sitzt bereits eine Frau. "Hey, wie geht es dir?" fragt sie. Ich habe sie noch nie vorher gesehen. Sie öffnet eine Tüte mit Fruchtgummischlümpfen und bietet sie mir an.
Der zweite Fahrgast im Vierersitz möchte auch Fruchtgummi. Er hat irgendwas an der Nase, bzw. er hat da irgendwas nicht, was eigentlich dort sein müsste. Ein Stück Nasenflügel fehlt, es sieht aus wie weggefressen. "Lecker, lecker!", lobt der die Fruchtgummischlümpfe.
Der erste Mann hat mir gegenüber Platz genommen. "Haben Sie Schmerzen?", fragt er. "Brauchen Sie Hilfe? Was ist passiert?"
Kreuzbandriss und Innenbandriss, berichte ich kurz. "Spielen Sie Fußball?", fragt der Nasenmann. Und berichtet, dass er mal was am Ellbogen hatte und das sehr blöd war mit dem Zähneputzen. Die Schlumpffrau reicht weiteres Fruchtgummi.
Traurig schaut der erste Mann uns an. "Darf ich etwas sagen?", flüstert er. "Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber meine Frau hat mich verlassen, weil ich trinke." Dann beginnt er zu weinen.
Hilflos streiche ich dem weinenden Mann ein wenig über den Arm. "Was soll ich denn nur machen?", fragt der Mann und lehnt sich vor, umarmt mich und weint an meinen Hals. Die Schlumpffrau beugt sich vor und streichelt ihm die Haare, "shhhhht, shhhhht", sagt sie dabei. "Shhhhht."
"Ach Kinder", sagt der Nasenmann und umarmt uns alle drei so gut es geht. "Wir passen auf einander auf. Wir sind doch alle eine Herde!"
Ich hatte heute einen ganz normalen, wenn auch recht ruhigen Tag - morgens etwas länger geschlafen, ein paar Stunden im Büro verbracht, mich selbstständig hin- und hertransportiert, eine Maschine Wäsche gewaschen und aufgehängt, ein Essen gekocht. Gut, das ging noch alles sehr langsam und mit größerer Anstrengung als sonst, aber ich finde es schon ein ziemliches Wunderwerk der Medizin, dass man da einem Menschen mal eben ausknipst und wüst im Knie herumfuhrwerkt, Dinge schneidet, richtet, näht, hinterher ist alles unförmig und funktionslos - und nur eine Woche später kann man schon wieder einen recht normalen Alltag haben.
Ich weiß natürlich nicht, ob zwei Tage schon wirklich aussagefähig sind, aber bei meinen Expeditionen mit Krücken und Beinschiene in die Öffentlichkeit fällt mir Folgendes auf: die allermeisten Menschen über alle Farben und Formen, Geschlechter und Altersstufen hinweg sind wirklich ganz rührend aufmerksam und hilfsbereit. Sie halten Türen auf, machen Plätze frei, bieten an, etwas festzuhalten und so weiter und so weiter.
Mit Ausnahme einer spezifischen Gruppe, die im Gegensatz dazu schnell nochmal vorbeidrängelt um den letzten freien Sitzplatz zu erhaschen, nach Blickkontakt Türen ins Gesicht zuschlagen lässt und übertrieben laut seufzt, wenn es irgendwo mal länger dauert. Das ist die Gruppe der ca. 35-50-jährigen Frauen. Also genau solche wie ich selbst.
Das ist schon irgendwie verstörend.
Frau N: Hier, dieser Thrombosestrumpf rollt sich oben immer ein und schnürt mir das Bein ab, was kann man da machen?
Sanitätsfachperson: Nix. Die sind [mehrminütiger Vortrag über die Strickart von Thromboseprophylaxe im Vergleich mit z.B. regulärer Kompressionsversorgung]. Also jedenfalls sind die dazu gedacht, damit zu liegen. Wenn Sie damit Laufen und das Bein belasten brauchen Sie die ja nicht mehr.
Frau N: Ach dann kann ich den ausziehen??
SFP: NEIN! Auf gar keinen Fall! Ziehen Sie es halt einfach immer wieder glatt, Sie haben doch Zeit.
Arzt: Na Frau N., was macht mein Knie?
Frau N: Also wenn Sie das dicke blaue da meinen, das ist mein Knie. Sie könnten da allenfalls noch ärztlich unser Knie sagen.
Arzt: Sehe ich anders. Das ist wie bei einem Sorgerechtsstreit. Ich würde sagen, ich weiß mehr über dieses Knie als Sie und kümmere mich auch deutlich kompetenter darum.
Frau N: Und 44 gemeinsame Jahre zählen nichts?? Sie sind doch im Alltag nie da, nur zu den besonderen Gelegenheiten, wie so ein Sonntagspapa!
Arzt: Pscht jetzt, sonst gibt es Narkose.
Ich bin vermutlich in guten Händen.
Ja, ich hab ausreichend Dinge getan. Um 6 aufgestanden und dann vor dem Frühstück gymnastische Übungen fürs Bein und die ersten Schrittchen ohne Krücken. Krankenbesuch bekommen, Homeoffice gemacht, weitere Schrittchen ohne Krücken, dann auch Schritte, dann nochmal Beingymnastik, dann eine halbe Stunde Couch. Dann ohne Krücken die Küche aufgeräumt und nochmal Homeoffice und Abendessen (bestellt) mit Füße hochlegen und jetzt bin ich mal wieder unglaublich müde.
(Stellen Sie sich das als ein anlaufnehmendes Sooooooooo vor, um morgen die Couch zu verlassen und Dinge zu tun. Was für Dinge, und wie ich sie tun kann, weiß ich jetzt noch nicht. Aber das findet sich schon. Es gibt immer und überall Dinge, die getan werden wollen, und ganz bestimmt braucht man nicht für alle zwei fitte Beine.)
Die Zeit rast geradezu, wenn man nur so auf dem Sofa sitzt. Es ist schier unglaublich. Gut, es mag daran liegen, dass ich zunächst einmal nachts mindestens 11 Stunden schlafe und auch gerne nochmal ein Mittagsschläfchen einlege. Und auch daran, dass alles etwas länger dauert. Ein Glas Wasser holen ist sonst eine Angelegenheit von ca. 15 Sekunden. Momentan schätze ich das 10fache. Wenn man das hochrechnet läppert es sich natürlich. Ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, die Zeitung zu lesen!
Definitiv gibt es aber schon einen sekundären Krankheitsgewinn in Form einer neuen Geste: mit der Krücke einen herumliegenden Socken aufangeln und dem Verursacher auf eben dieser verächtlich unter die Nase halten. Sodann mit einem Schlenker aus dem Handgelenk die Socke in eine passende Richtung (z.B. Kinderzimmer) davonschleudern. Ich bin schon sehr gut im Sachen-per-Krücke-schleudern, ganz nebenher lassen sich auch Lichtschalter sehr gut so bedienen und Oberlichter schließen und Chipstüten aus dem oberen Schrankfach hangeln. Das war noch vor einer Woche alles viel schwieriger.
Dann ist mir noch etwas aufgefallen in punkto sekundärer Krankheitsgewinn: Ich neige ja ein bisschen zu orthopädischen Problematiken. Mit diversen Sehnenscheidenentzündungen (beide Arme), Bänderdehnungen (beide Füße) und letztes Jahr Rücken mit Folge Bein kann ich schon aufwarten. Und ich stelle zu meinem Erstaunen fest, dass diese Problematiken ein ganz unterschiedliches Ansehen genießen. Sehnenscheidenentzündungen sind eine Tippsenerkrankung, hat keinerlei Stellenwert und wird belächelt. Verknackste Füße zeugen von Ungeschicklichkeit. Rücken ist ganz schlimm - signalisiert Gebrechen, Alter, Übergewicht, Unsportlichkeit, all das. Mit Rücken kann man Mitleid ernten, viel Mitleid, aber sonst nichts. Hingegen Kreuzband bzw. Unhappy Triad: das ist eine typische Sportverletzung, da schwingt schon fast Wagemut mit, entsprechend sind die Reaktionen darauf. Probieren Sie es aus. Nee, lieber nicht, probieren Sie was anderes aus, das interessiert mich wirklich, aber ich traue mich (noch) nicht, es selbst auszuprobieren: Kommt man vom Fußboden wieder hoch (wenn man sich dort hingelegt oder hingesetzt hat), wenn ein Bein gestreckt bleiben muss, ohne Hilfsmittel? Wie geht das? Bitte testen Sie mal, ich bin momentan nicht so risikofreudig, habe aber häufiger als gedacht Dinge am Fußboden zu erledigen und wüsste für die nächsten Tage gern Bescheid. Und mich von der Familie unter Gejaule vom Boden zerren lassen möchte ich mich nicht, das macht ja das ganze Krankheitsansehen zunichte.
Oft wird ja erst im Nachhinein klar, welche Entscheidungen gut und welche weniger gut waren. Ich habe nun gleich zwei eher nebenher getroffene Entscheidungen des letzten Jahres identifiziert, die ganz hervorragend waren.
Erstens: Anschaffung des Ventilators. Sehr geräuscharm, sehr effizient macht das Sofaliegen momentan sicher um 50% angenehmer.
Zweitens: Anschaffung der neuen Matratze im Bett, die nicht nur insgesamt bequemer ist sondern auch viel höher als die alte. Eine Senioren-Komforthöhe. So dass ich da jetzt auch mit Bein in der Schiene mühelos aufstehen kann, ohne vorher nach irgendwas zum Festhalten zu fuchteln.
Dass ich mein ganzes Entscheidungsglück nicht nur mit Kaufentscheidungen verspielt habe sondern auch noch irgendwas Signifikanteres im letzten Jahr dabei war, kann ich bisher nur hoffen.