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    Montag, 25. Juli 2022
    Kampfkunst im Alltag?

    Die Frage des Tages (füllen Sie ruhig weitere in die täglicher unverbindliche Contentvorschlagliste!) ist, ob ich meine Kampfkunstkenntnisse schon einmal außerhalb der Sporthalle anwenden musste.

    Das "musste" gibt in meinen Ohren der Frage einen merkwürdigen Drall, es klingt so, als die Vorstellung ist, dass mich jemand auf der Straße angreift und ich dann wie eine geschulte Kampfmaschine Techniken und Abläufe anwende um aus einer mehrminütigen körperlichen Auseinandersetzung auf kurzer Distanz siegreich bis triumphierend hervorzugehen. Also so wie im Fernsehen.

    So ist das nicht. Das Bild muss ein ganz anderes sein, ich erkläre es gleich, aber: Ich habe, das was ich in der Sporthalle gelernt habe, schon sehr, sehr häufig im Alltag eingesetzt aber nur zweimal kam es dabei überhaupt zu Körperkontakt über einen einzige Berührung hinaus (und einer dieser Fälle war ein Irrtum, manche praktischen Scherze sind nicht ratsam, z.B. eine Freundin im dunklen Hausflur absichtlich zu erschrecken, das kann sehr weh tun).

    Nun die Erklärung. Was man bei Kampfsport, Selbstverteidigung, Kampfkunst als allererstes lernt, ist: sich selbst und Situationen einschätzen. Als nächstes lernt man dann, wie man sich in der Situation am besten verhält. Und in einer enormen Vielzahl an Situationsbewertungen ist das Ergebnis: abhauen. Sich aus der Situation nehmen. Je früher man das erkannt hat, desto einfacher geht es üblicherweise, man lernt daher, das eigene Bauchgefühl, das sich ja aus kleinen Wahrnehmungen speist, zu vertrauen und dann lernt man, wie Kampfsituationen wirklich sind, nämlich: sehr schlecht. Die allermeisten von uns haben ja das Glück, im Alltag nur wenig körperlicher Gewalt zu begegnen, es ist deshalb sehr hilfreich, dem in einem (so gut wie möglich, Verletzungen kommen vor) geschützten Raum zu begegnen, um ein realistisches Bild zu haben, was das überhaupt wirklich ist. Wie sehr es weh tut, wenn ein Schlag zum Beispiel in den Bauch oder ins Gesicht mal wirklich (oder auch nur halb) trifft, weil die Pratze verrutscht ist, das ist nicht wie im Fernsehen, wo dann jemand mal kurz eine Grimasse zieht und dann geht es weiter. Da geht erstmal nichts weiter, zumal einen das auch psychisch sehr aus der Fassung haut - die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person wie ich sich nach so einem Schlag kurzfristig wieder aufrappelt liegt bei Null. Auch die Erfahrung, einer komplett eskalierten Person mal ganz in echt gegenüberzustehen habe ich im Alltag - wie gesagt, zum Glück - normalerweise nicht, also gut, M als Kleinkind war manchmal so, aber Anfang 20jährige, die mich nochmal um 1,5 Köpfe überragen, begegnen mir in diesem Zustand eigentlich nie und auch da war es gut für mich, das mal gesehen zu haben, ich war nämlich starr vor irgendwie auch leicht ehrfürchtigem Schreck. Ich bilde mir seitdem nicht mehr ein, dass ich gegen einen jungen Mann in Rage in einer körperlichen Auseinandersetzung den Hauch einer Chance hätte.

    Was ich also gelernt habe und im Alltag häufig angewendet habe ist das Wissen, dass ein Kampf wenn es irgendwie geht vermieden werden muss. Ohne wenn und aber. Situation rechtzeitig erkennen, weggehen, wenn nötig wegrennen. Falls es aufgrund unglücklicher Umstände doch zu körperlicher Begegnung kommt, muss so schnell wie möglich so viel Schaden wie möglich zugefügt werden, denn auf die Länge hätte ich keine Chance, ebenso nicht, wenn es zu einem Kampf am Boden kommt und wenn die andere Person in irgendeiner Weise bewaffnet sein sollte schon gar nicht. Wie man das macht - also sich aus der Situation ziehen und wegrennen und/oder ganz schnell und effizient Schaden zufügen und dann wegrennen lernt man bei Selbstverteidigung. Wie gesagt: das Ziel im Alltag ist nie, einen Kampf zu gewinnen sondern die Situation zu verlassen.

    Also: angewendet habe ich meine Kenntnisse, aber in anderer Form als man beim Lesen der Frage auf den ersten Blick denkt. Ich habe (oft) Situationen als für mich nicht gut kalkulierbar wahrgenommen und sie verlassen, auch wenn sie auf andere ganz normal wirkten. Weil ich gelernt habe, mir diese Erlaubnis zu geben, auch wenn es komisch oder unhöflich wirkt, eben weil ich gelernt habe, was eine körperliche Auseinandersetzung bedeutet.

    Ich habe gelernt, mit der Stimme Aufmerksamkeit zu schaffen. Nicht zu hoffen, dass eine Situation, die ich nicht verlassen kann, glimpflich vorübergeht sondern sehr laut zu adressieren, was falsch läuft (sowas wie "LASSEN SIE SOFORT MEINEN ARM LOS. ICH VERBIETE IHNEN MICH ANZUFASSEN!" Ich habe auch gelernt, mich aus solchen simplen Situationen zu befreien, also: eine unerwünschte Hand (möglicherweise auch sehr schmerzhaft) selbst zu entfernen. Was davon ich einsetze, kommt auf die Situation an. Leute von Straßenständen, die mich am Arm halten, brülle ich eher an, Leuten in der Bahn, die eine Hand auf mein Bein legen, verdrehe ich eher einen Finger (und brülle sie dabei an).

    Situationen, die darüber hinausgehen, kommen selten vor. Solche beispielsweise, in denen sich jemand drohend immer weiter nähert. Stellen Sie sich das nicht als langes Palaver vor, wie gesagt, es geht nie darum bei irgendwelchen Irren Recht zu behalten sondern es geht darum, Vorfälle zu vermeiden. Bei langem Palaver in einer unübersichtlichen Situation wäre ich längst weggerannt. Aber es gibt Situationen, da geht das sehr schnell, plötzlich steuert eine komische Person unvermittelt geradewegs auf einen zu, weil sie betrunken, high, aggressiv oder eine Mischung davon oder noch irgendwas anderes ist. Dann gibt es verschiedene Bewegungen, die andere auf Abstand halten, mein Signature Move ist das Schubsen (Frau Herzbruch würde vermutlich sagen, mein Signature Move sei das Schlagen mit der Handtasche so herumgeschwungen wie ein Morgenstern, aber das habe ich in Wirklichkeit nur einmal gemacht, da war sie nur zufällig gerade dabei. Eigentlich schubse ich.) Ich kann enorm gut schubsen, ich habe in der Sporthalle Schubsten gelernt, da gibt es eine Technik und wer nicht damit rechnet, geschubst zu werden (die allerwenigsten tun das!) fliegt dann ein Stückchen. Dann hat man sich ein wenig Raum und Zeit geschaffen. Zum Abhauen.

    Tut mir leid, wenn das alles wenig heroisch klingt, aber so ist da halt. Geschichten in Filmen und Büchern vermitteln dazu ein falsches Bild. Echtes Kämpfen ist voller Angst und Schmerz. Als Hobby Kampfsport oder Kampfkunst zu betreiben ändert daran allenfalls, dass einem das bewusster ist.

    November seit 6848 Tagen

    Letzter Regen: 05. Dezember 2024, 22:54 Uhr