Die Mutter einer Schulfreundin von mir war eine große Anhängerin des Konzepts "Krankheit als Weg". Egal, mit welchem Zipperlein man sich herumschlug, es wurde immer gleich ein küchenpsychologischer Zusammenhang zur aktuellen Lebenssituation hergestellt. Als ich mir in der Nacht vor der letzten Abiturprüfung einen Bänderriss zuzog (kurz nach Mitternacht in einem Park, dann bis 4 Uhr in der Notaufnahme und morgens um 8 zur mündlichen Prüfung, man macht was mit...) diagnostizierte sie völlig unzutreffend, dies wäre geschehen, weil ich den "Fortschritt", den die Prüfung am nächsten Tag bedeute, innerlich noch nicht annehmen könnte. In Wirklichkeit war ich einfach betrunken bei einer Heuschlacht in einem Maulwurfsloch oder so etwas hängengeblieben, konnte das Ende der Schulzeit kaum erwarten und humpelte folglich am nächsten Morgen auch pünktlich zur Prüfung.
Trotzdem muss ich immer wieder an diese Mutter denken, wenn mir, seit nunmehr rund 8 Jahren, regelmäßig im Dezember die Stimme wegbleibt, und zwar immer genau dann, wenn ich Jahresendgespräche geplant habe. Auch hier würde ich aber eher einen jahreszeitlichen als einen psychologischen Zusammenhang vermuten. Ich kann mir zwar viele attraktivere Dinge vorstellen, als diese Gespräche zu führen, aber auch wenn ich ganz tief in mich gehe: eine Mandelentzündung oder Seitenstrangangina sind eindeutig nicht darunter.
Krankheit als Weg also bei mir nicht. Weder damals noch heute.