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    Donnerstag, 30. August 2012
    Blogging November - 300

    Die Tagebücher von Victor Klemperer habe ich durch Zufall entdeckt. Ich lese gerne Tagebücher und Briefe, wenig erstaunlich, schließlich lese ich ja auch gern Blogs. Tagebuch geschrieben hat Herr Klemperer von 1918 bis 1959, aber ich habe - Zufall eben - mit dem Schuber 1933 bis 1944 begonnen, Drittes Reich also.

    Mit dem Dritten Reich und mir war es immer schwierig. Natürlich habe ich "alles" darüber in der Schule gelernt, die nach den Geschwistern Scholl benannt war, so dass das Thema keinesfalls unter den Tisch gefallen ist. Auch in meiner Verwandtschaft war Krieg und Drittes Reich oft Thema - ein Opa und ein Onkel waren in russischer Kriegsgefangenschaft, mein Vater ist weißer Jahrgang, meine Mutter Großstadt-Kriegskind. Also: das Wissen ist da, das Wissen über die großen Zusammenhänge, die im Nachhinein betrachteten politischen Handlungsstränge. Was nicht da war, war das Verstehen. Ich glaube, etwas so grauenhaftes wie den Holocaust kann man gar nicht verstehen, dafür fehlt mir zum Glück der Erfahrungshorizont. Im Gegensatz dazu kann ich aber z.B. verstehen, wie es ist, seine Katze einschläfern lassen zu müssen. Und so kommen wir zurück zu den Tagebüchern.

    Professor Victor Klemperer ist Philologe und jüdischer Abstammung (das schreibe ich so kompliziert, weil er eigentlich Protestant ist, aber seine Mutter eben nicht, daher gilt er im Dritten Reich als Jude), und er beschreibt in seinen Tagebüchern seinen Alltag. Er schreibt über seine Frau, das Essen, die Reinigung des Katzenklos, lästert über die Nachbarn, klagt über Krankheiten und erzählt von den Büchern, die er liest. Es ist eigentlich ganz banal, aber wie sich diese alltäglichen Banalitäten unter der historischen Entwicklung verändern ist das ganz große Ding. Aus heutiger Sicht wissen wir, wie es ausgeht, sowohl mit dem Krieg also auch mit Herrn Klemperer, und trotzdem ist man als Leser furchtbar aufgeregt und möchte ihm immer wieder zurufen, dass er doch jetzt endlich gehen soll, flüchten, egal wohin, während er zaudert und nicht will, wegen der Katzen, wegen dem gerade gebauten Haus, wegen des Berufs, bis ihm dann Katzen, Haus und Beruf genommen sind und er nicht mehr wegkann, selbst wenn er wollte.

    Gespräch mit Stühler senior: "Ich will Zeugnis ablegen." - "Was Sie schreiben, ist alles bekannt, und die großen Sachen, Kiew, Minsk etc., kennen Sie nicht." - "Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche..." Stühler, eine Weile später: "Ich habe mal gelesen, die Angst vor einer Sache ist immer schlimmer als das Ereignis selber. Wie sehr graute mir vor der Haussuchung. Und als die Gestapo kam, war ich ganz kalt und trotzig. Und wie uns das Essen hinterher geschmeckt hat! All die guten Sachen, die wir versteckt und die sie nicht gefunden hatten." - "Sehen Sie, das notiere ich!"
    (Victor Klemperer - Tagebücher 1944)

    Er hat das ganz richtig gemacht. Lesen Sie das.




    Heute vor zig Jahren:
    Nichts besonderes.

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