Morgen darf ich die Knie-Orthese abnehmen und zwar wann immer ich will, nicht nur, wenn ich mit hochgelegten Beinen auf dem Sofa sitze! Was genau dann auf Anhieb möglich ist, weiß ich natürlich nicht, aber das wird schon, ich freue mich in jedem Fall sehr auf:
- Duschen ohne mir vorher das Bein in Frischhaltefolie zu wickeln und einen Müllsack drüberzustülpen
- Jederzeit, wenn mir etwas einfällt, einfach aufspringen und losgehen zu können, ohne Bein.v2 erst mühsam ins Exoskelett zu hüllen
- Jede beliebige Hose anziehen zu können - nicht mehr nur die mit weitem Bein. Ich kann schon jetzt an fast nichts anderes denken als an die Kleiderwahl. Naja vermutlich wird es aber doch wieder eine Hose mit weitem Bein, denn es soll ja wieder so unnatürlich warm werden.
Ja. Ich weiß gar nicht sicher, ob ich heute Nacht vor Aufregung schlafen kann. Und ob ich morgen Nacht ohne Exoskelett schlafen kann, daran bin ich jetzt schließlich gewöhnt!
Morgen!
Frau N: Ich habe hier einen Patienten.
Fahrradmann: Das Rad mach ich, das Bein nicht.
Frau N: Das Rad, das Rad natürlich. Das muss mal komplett, es stand jetzt ganz lange und ich konnte mich nicht kümmern.
Fahrradmann: Mach ich.
Frau N: Also die Handdbremse rechts und das Rücklicht...
Fahrradmann: Ich seh das dann schon.
Frau N: Und am Hinterrad...
Fahrradmann: Frau N. wollen Sie irgendwas anderes von mir als ein verkehrssicheres Rad, das Sie gut fährt?
Frau N: Äh, nein.
Fahrradmann: Na dann. *macht verscheuchende Handbewegung*
Frau N: Aber einen Korb möchte ich noch!
Fahrradmann (im Tonfall des Leidens Christi): Einen K-o-r-b.
Frau N: Hinten.
Fahrradmann: HINTEN!!
Frau N: Ja, so fest angebracht. Von mir aus mit Kabelbindern.
Fahrradmann: Jaja, das sehen wir dann mal wenn Sie es abholen. Kommen Sie Mittwoch.
Frau N: Mittwoch kann ich nicht.
Fahrradmann: Donnerstag. *geht grußlos weg*
(Immerhin hat er nicht gesehen, dass ein neues Schloss - Weihnachtsgeschenk - dran ist, dass nicht bei ihm gekauft wurde.)
Ich hatte heute das Glück, mir die Person, die im Zug neben mir sitzt, aussuchen zu können. Weil ich nämlich zu faul war, zwei getrennte Fahrkarten/Sitzplätze für Hin- und Rückfahrt zu kaufen und deshalb auch für Mademoiselle die Rückfahrt mitgebucht hatte, obwohl sie heute gar nicht mit mir fuhr.
Ich suchte mir einen unauffälligen älteren Herrn aus, der im Gang stand, eine Laugenbrezel aß und zwei Zeitschriften (Spiegel und Economist) dabei hatte.
War eine gute Wahl, ich konnte die ganze Fahrt ohne Unterbrechung lesen und es gab keine Mittellehnenstreitigkeiten.
Arzt: Frau N., was macht mein Knie?
Frau N: Das müssen Sie mir sagen.
Arzt: Es sieht gut aus!
Frau N: Dankeschön!
Arzt: Wollen wir mal schauen, ob es auch stabil ist. Legen Sie sich mal hin.
*drückt und zerrt am Knie in alle Richtungen und schleudert es hin und her*
Arzt: Frau N, lassen Sie mal die Muskeln locker.
Frau N: *versucht, die Muskeln locker zu lassen, hat aber Angst, der Arzt reißt das Bein einfach ab*
Arzt: Frau N. Hören Sie auf, mein Knie mit ihren Beinmuskeln festzuhalten. Ich kann das sonst nicht untersuchen. Dann muss ich Sie wieder narkotisieren!
Frau N: Geben Sie mir 15 Sekunden! *begibt sich geistig an einen anderen Ort*
Arzt: Ah. Sehr gut. *ruckelt und reißt wie ein wildes Tier*
Arzt: Hm. Hmhm.
Frau N: Nicht gut?
Arzt: Doch doch. Warten Sie mal. *ruckelt und reißt und drückt noch viel mehr* Hmhm. Das ist jetzt unerwartet.
Frau N: Was denn???
Arzt: Das ist sehr stabil. Geben Sie mir mal das Gesunde. Hm. Da ist kein Unterschied. Das Kreuzband ist stabil.
Frau N: Wollten Sie das nicht nochmal von Innen betrachten?
Arzt: Ja, das würde ich sehr gerne. Nur leider gibt es dafür keine Indikation. Ich kann ja nicht nach Belieben Leute aufschneiden. So ein Arzt bin ich nicht.
Frau N: Und wie geht es jetzt weiter?
Arzt: Ab Mittwoch Schiene weg, Sie werden sich erst kaum trauen zu gehen, das ist Kopfsache. Lassen Sie die erstmal nachts weg, dann in der Wohnung und so weiter, aber sehen Sie zu, dass Sie die innerhalb einer Woche los sind. Dann Muskelaufbau: Schwimmen, Radfahren, Krankengymnastik am Gerät. In 6 Wochen Kontrolle. Dann können wir über Sport sprechen. So, jetzt fliege ich nach Mallorca!
Frau N: Jetzt sofort??
Arzt: *zieht einen Koffer hinter dem Vorhang hervor* Ja, ich wollte nur noch nach meinem Knie schauen. Ich überantworte es Ihnen hiermit zurück. Viel Spaß!
Frau N: Ihnen auch!
Arzt, im Gehen: Treppe runter aufpassen, da knickt man schnell um! (entschwindet)
So. Ja. Cool.
Am Bus gab es heute etwas Gedränge - viele wollten raus, viele wollten rein, von hinten wurde geschoben, die Aussteigenden schienen raus, da kam von irgendwo noch ein gut gekleideter Mann, gleichzeitig hatte eine von hinten geschobene mittelalte Frau bereits mit dem Einsteigen begonnen, der gut gekleidete Mann baute sich vor ihr auf und hielt eine höchst rechtschaffene Predigt über "erst aussteigen lassen, dann einsteigen!" Die Frau versuchte geduckt-verhuscht an ihm vorbeizukommen.
Dann kam von hinten ein anderer Mann. "Was gehst du die Frau so an, kommst du da etwa nicht vorbei oder was? Was ist mit dir?? Sieh das als deinen Glückstag, so nah wirst du einer schönen Frau in diesem Leben wahrscheinlich nicht mehr kommen! Du HUND!!"
In dem Moment war es um mich geschehen, nicht zuletzt, weil der Mann aussah wie jemand, der ganz sicher noch über kräftigere Schimpfworte als "Hund" verfügt. Ich musste so lachen, dass ich nicht einsteigen konnte und der Bus ohne mich fuhr.
Und zapp, ist es um 21:30 schon wieder dunkel.
Ich habe heute spontan eine größere Menge Sneakersocken gekauft - eigentlich verachte ich Sneakersocken, aber Bein.v2 reagiert momentan etwas empfindlich und benötigt Socken, die am Knöchel nicht drücken. Also Sneakersocken, die gehen ja gar nicht so hoch und also viele, deshalb nahm ich einfach alle, die es in meiner Größe in der Farbe schwarz (und auch 2x knallorange und 1x geringelt, aber das tut hier nichts zur Sache) gerade gab.
Interessanterweise waren die Sneakersocken schwarz in Größe 38-42 - alle von derselben Marke - dann nochmal unterteilt:
Damensocken - EUR 2,95
Damen/Herren - EUR 2,75
ohne Zuordnung - EUR 2,45
Rein optisch und haptisch kann ich keinerlei Unterschiede feststellen. Einziger Unterschied bisher: Die Damensocken und die ohne Zuordnung waren mit einer Plastikgräte verbunden, die Damen/Herren-Socken mit einem Faden.
Ich bin jetzt natürlich sehr gespannt, ob sich anhand des Tragekomforts irgendwie feststellen lässt, welches Paar Socken ich gerade trage und vor allen Dingen auch, was passiert, wenn mir in der Waschmaschine Damen-Damen/Herren-keine Zuordnung durcheinandergerät!
Alltag ist schon sehr anders.
Der letzte Tag war dann recht unspektakulär. Morgens weckte mich wieder das Huhnartige und ließ sich genauso wenig fotografieren wie immer bisher. Dann gab es natürlich nochmal Spiegelei. Und dann brachen wir auf nach Dover, um dort nochmal zu übernachten und dann eine frühe Fähre zu nehmen.
Der Weg nach Dover zog sich, einmal weil es in Südengland ja keine richtige Autobahn gibt, dann wetterbedingt und nicht zuletzt auch, weil es der erste Tag der britischen Sommerferien war und zusätzlich halt Samstag und damit Bettenwechsel in den Ferienhäusern.
Das Spektakulärste war vielleicht, dass Herr N und Mademoiselle "richtiges Essen mit Fleisch" an einer Imbissbude auf einem Miniparkplatz zu sich nahmen, es soll grauenhaft gewesen sein, aber beide haben aufgegessen. Also war es vielleicht ungefähr so wie bei mir - das Essen habe ich zwar abgelehnt, aber dafür das Klo dort benutzt, das war auch grauenhaft aber hat mich nicht davon abgehalten, mein Vorhaben umzusetzen. Wir sind in der Familie alle etwas entschlussfest.
Als wir dann am Abend in Dover ankamen, hatte niemand mehr Lust, etwas zu besichtigen und auch niemand mehr Lust, zum reservierten Inder zum Essen zu fahren. Statt dessen ließen wir uns einen Tisch im hoteleigenen Restaurant reservieren und aßen dort mti Blick auf die Kreidefelsen und auch wirklich sehr gut. Davon abgesehen, dass ich kein Restaurantessen mehr sehen kann derzeit, mir ist eher so nach Nudeln mit Tomatensoße oder Käsebrot. Letzteres ließ sich aber fast umsetzen, denn ich bestellt mir einfach die Käseplatte von der Dessertkarte als Hauptgericht, die kam dann mit Brot, Crackern, Apfel, Traube und Karotte daher und die Käsesorten waren allesamt köstlich (kein Foto weil so schnell aufgegessen). Währenddessen saugten im guten Hotel-WLan alle unsere Geräte gierig ihre Updates.
Dann machten wir noch einen Strandspaziergang. In Dover wird momentan viel in den Docks gebaut, ich glaube, es soll einen neuen Pier geben, jedenfalls darf man nur zu sehr eingeschränkten Zeiten schwimmen, weil ansonsten unter Wasser Pfähle irgendwo eingerammt werden.
Die Nacht war dann leider blöd, es war im Zimmer nämlich unglaublich heiß, also wirklich heißer als in dem tropischen Gewächshaus. Die Fenster ließen sich nicht richtig öffnen, zudem gingen sie hinten heraus und da war ein Baugerüst und darauf saßen Menschen und feierten, was mich nicht an sich störte, aber zum Schlafen wollte ich dann doch lieber die Vorhänge geschlossen haben, also kam noch weniger Luft hinein. Das Hotel hatte einen Ventilator bereitgestellt, der lief dann eben die ganze Nacht, Herrn N störte das Geräusch und mich, dass er mir immer wieder Haare ins Gesicht pustete (der Ventilator, nicht Herr N), ohne ging es aber partout nicht. Naja egal, irgenwdann schläft man dann halt doch. Und am nächsten morgen präsentierte sich Dover frisch und sonnig.
Die Fähre fuhr um 9 Uhr und hatte mir am Vortag gemailt, wir sollten bitte 1,5 Stunden vor Abfahrt einchecken wegen Hochsaison. Das taten wir auch - es waren vom Hotel nur 15 Minuten bis zum Hafen, deshalb hatten wir das ja extra so geplant - und waren dann eins der ersten Autos überhaupt, so dass noch Zeit war, auf Suche nach Kaffee durch den Hafen zu wandern. Dabei unterhielt ich mich noch mit einem Hafenarbeiter, also so gut es ging, denn er sprach einen Akzent, mit dem ich nicht zurechtkam. Aber er erklärte mir, dass eine Fähre (ferry) ein "boat" sei, kein "ship". Ship und boat unterscheiden sich sonst (im Englischen - ich weiß nicht, ob man das 1:1 aufs Deutsche umlegen kann) durch Größe, Besatzung, Passagieranzahl, Reisedauer, Art der Gewässer in denen sie verkehren, Neigung in Kurven und so weiter, es klang alles höchst kompliziert, aber war dann ja auch nicht weiter wichtig, denn Fähren sind - ganz egal welche Aspekte ansonsten auf sie zutreffen - ein "boat". Sehr interessant.
Nun, und dann ging es auf die Fähre und 1,5 Stunden später sahen wir das europäische Festland.
Heute draußen Regen. Also ernsthafter Regen, nicht ein bisschen Geniesel oder feuchte Luft sondern Regen dergestalt, dass man zwischen Auto und Bordstein bis auf die Socken nass wird. Wir wählen als die Regenoption des heutigen Tagesplans nämlich: das Eden Project.
Das Eden Project ist ein botanischer Garten in einer alten Grube von irgendwas (googeln Sie bei Interesse einfach), in die wieder Natur gemacht wurde, und zwar ganz besonders tolle, und alles sehr nachhaltig. Zusätzlich gibt es zwei Gewächshäuser, das sind die größten der Welt. Das eine ist subtropisch-feucht, das andere subtropisch-trocken, und in den Gewächshäusern gibt es nicht nur Pflanzen sondern auch ein paar Tiere, die halt Schädling fressen und so, also ein paar (in solchen Gegenden beheimatete) Echsen, Vögel und so.
Wegen des sintflutartigen Regens ließen wir den Außenbereich aus, kamen aber trotzdem tropfend im Subtropischen an und hatten es da zwar warm, aber trocken wird man bei über 90% Luftfeuchtigkeit natürlich nicht. Dennoch: schöne Pflanzen. Und auch interessante Pflanzen von Dingen, die ich oft esse und noch nie live wachsen gesehen habe: Bananen, Reis, Kaffee, Kakao, verschiedene Gewürze, Zuckerrohr und so weiter.
Es war allerdings ziemlich voll und anstrengend und nach ungefähr vier Stunden wollten wir alle nur noch schlafen. Also ging es zurück ins Farmhaus und dort bei Tee aufwärmen und dann ein kleines Nickerchen.
Am frühen Abend kam die Sonne wieder hervor und wir brachen zum Abendessen in einen kleinen Küstenort - Looe - auf.
Hübsch war es da, aber auch sehr touristisch. Dabei hatte die Gastgeberin am Morgen noch berichtet, dass Vorsaison ist und der große Ansturm erst mit den britischen Schulferien kommt - also morgen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie der Hochsaisonverkehr sich auf den winzigen Straßen hier darstellt.
Die Familie lehnte nach dem Essen weitere Spaziergänge oder Besichtigungen ab. Ist mir auch recht, Bein.v2 hat durch die neue Beweglichkeit äußersten Muskelkater bekommen. Und ich glaube, wir haben jetzt auch wirklich alle genug gesehen und freuen uns darauf, zu Hause auf der Couch zu sitzen und das Gehirn verarbeiten zu lassen.