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    Sonntag, 21. Juni 2020

    Eins der Themen, die meiner Ansicht nach völlig unterkomplex betrachtet werden, ist: Home Office: hat ja gut geklappt, warum machen wir da jetzt nicht immer? Achso, weil der Arbeitgeber misstrauisch denkt, man arbeitet da nicht. Deshalb jetzt bitte gesetzliches Recht auf Home Office für alle!11

    Ich finde eher, Home Office funktioniert nicht rein dadurch, dass alle nun von zu Hause arbeiten. Sicher ist der physische Aufenthaltsort das offensichtlichste Merkmal, aber die Thematik hat sich dadurch noch nicht erschöpft (dass das ganze Konstrukt sowieso nur einen Brucheil der Erwerbsarbeitenden betrifft und davon nochmal nur für einen Bruchteil räumlich in Frage kommt, lasse ich mal außen vor).

    Was muss - außer der reinen physischen Präsenz und der (technischen) Befähigung, die Aufgaben von einem anderen Ort auszuführen - noch alles bedacht werden?

    Einmal ganz praktische Fragen, da gibt es eine Vielzahl, mir ist bestimmt (zu Hause) nur ein Bruchteil an Fragen eingefallen, die es zu beantworten gälte.

    Ganz vorne dabei: wie ist es mit der Vertraulichkeit? Ich gehe viel mit Personaldaten um, mein Arbeitgeber befasst sich insgesamt viel mit Insiderinformationen (in Bezug auf Börsenhandel, keine Geheimagenten, leider). Was mache ich mit Akten oder Ausdrucken, wo kommen die hin, brauche ich abschließbare Schränke? Schließlich sind weitere Familienmitglieder anwesend, manchmal hat man auch Besuch (zu Coronazeiten natürlich eher nicht). Was ist bei vertraulichen Gesprächen, Telefonaten, Videokonferenzen, muss ich da das Fenster oder die Balkontür schließen, muss ich die Tür zum Arbeitszimmer schallsichern, wie hellhörig sind die Wände, wer überprüft das? Was mache ich mit Papiermüll? Welche Haftungsfragen ergeben sich?

    Von der Arbeitsplatzsicherheit (und Überprüfung derselben) will ich gar nicht anfangen, das ist jederzeit anstrengendes Thema. Aber was ist bei Kündigung oder langer Krankheit, geht dann wer in die Privatwohnung und holt Unterlagen da heraus, wie würde das funktionieren?

    Dann die zwischenmenschlichen Fragen: wie mache ich es mit der Kommunikation? Gerade mit der informellen, die sonst zwischen Tür und Angel passiert oder während man auf jemanden wartet oder im vorbeigehen was fragt oder gemeinsam in die Mittagspause geht oder was man bei offener Tür so an Flurfunk mitbekommt. Was man nicht hört sondern sieht und manchmal auch nur spürt. Diese informelle Kommunikation braucht Räume, sie ergeben sich bei räumlich verteiltem Arbeiten nicht (oder nicht so schnell) von selbst, sie müssen bewusst geschaffen werden.

    Was ich mich in der Rolle des Arbeitgebers auch fragen muss: wie weit gehe ich denn den Weg? Sollen alle generell immer von woanders arbeiten (das wollen glaube ich gar nicht mal so viele) würde das bedeuten, dass ich das meiste Equipment nur einmal brauche und dass ich die "offizielle" Bürofläche auf ein Minimum reduzieren kann. Wenn ich aber eine Mischform habe, brauche ich einige Sachen mehrfach (oder die Bereitschaft der Mitarbeiter*innen, immer recht viel zu tragen - kommt also vielleicht auch auf die Art der Anreise an den Arbeitsplatz an, Autofahrer*innen möglicherweise schlepp-bereiter als ÖPNV-Nutzer*innen?) Und wie gehe ich dann mit den Büroflächen um? Ich halte ja nicht für jeden ein schickes Einzelbüro vor, wenn die Hälfte die Hälfte der Zeit nicht da ist, das ist völlig ineffizient. Da würde ich dann doch eher mit flexibler Platzwahl und Desk Booking Tool arbeiten - und wie groß ist dafür dann die Toleranz? Das ist natürlich auch überall unterschiedlich, aber in meinem Umfeld denke ich, diejenigen, die ich durch Flexibilisierung des Arbeitsortes gewinne verliere ich andersherum wieder an der Stelle, an der sie ihre Diplome nicht mehr an die Wand hängen und keine Pflanzen mehr aufstellen können.

    Verwaltungskrempel wäre zusätzlich zu berücksichtigen: wer hat den Überblick, wer wann wo ist (gibt sicher eine technische Lösung), wie viele Getränke und wie viel Klopapier muss ich im Büro vorrätig halten.

    Überlegungen für mich persönlich: mir fehlten zu Hause die Dehnungsfugen des Alltags. Der Fußweg zur Bahn, das Lesen in der Bahn, die Kollegin, die mich zum Essen abholt, Menschen sehen, draußen sein (in der Pandemie natürlich nochmal verstärkt, weil ich während der Home Office Zeit ohne konkreten Anlass nicht rausgegangen bin, das wäre normal natürlich anders).

    Wichtig ist: all diese Fragen kann man natürlich klären, Regelungen und Lösungen finden. Technische Lösungen, Lösungen durch Aufmerksamkeit für das Problem, durch Schulungen, durch Beratung, durch Veränderung einer Kultur., durch Arbeit an mir selbst. Aber halt nicht “mal so eben”; ich denke, das ist eher ein Projekt.

    Als Arbeitgeber muss ich mich natürlich fragen: will ich mir dieses Projekt leisten (das kostet ja Geld, irgendwer muss auch bezahlt werden, um sich darum zu kümmern und zwar aus verschiedenen Bereichen: IT, HR, Leute die Schulungen machen, Leute die Compliance machen und so weiter)? Was bringt mir das?

    Weitere Überlegung - jetzt speziell für mein Büroumfeld - wäre: was bedeutet das für die Personenstruktur? Wir sind z.B. so organisiert, dass es einen Teil an Leuten gibt, die durch ihre Arbeit Geld reinbringen und damit einen anderen Teil querfinanziert, der Geld kostet - zum letzteren Teil gehöre natürlich auch ich. Der zweitgenannte Teil ist also nur sinnvoll, wenn er massiv dazu beiträgt, das “Geldreinbringen” des ersten Teils zu fördern. Alles, was kein Geld bringt, soll der Geldreinbringteil einfach gar nicht machen, auch wenn er es natürlich könnte.

    Wenn ich jetzt also z.B. eine Geldreinbringerin im Home Office habe, wie ist das dann, wenn sie einen Kaffee will? Holt sie sich selbst klar, kann sie ja, meine Güte, erwachsener Mensch, wird sich wohl Kaffee holen können, muss man nur richtig erziehen. Bringt sie in der Zeit Geld rein? Nein, tut sie nicht. Betrag x verloren, Betrag x steht also weniger für die Querfinanzierung des unterstützenden Bereichs zur Verfügung. Übertragen Sie Kaffee auf alle anderen Sachen, die eine Geldreinbringerin im Home Office selbst macht, weil sie es ja auch kann und weil es sonst auf physische Distanz zu umständlich, zu kompliziert, zu langsam wird.

    Natürlich lässt sich ein Büro auch ganz anders organisieren, es ist einfach ein Frage von “wie stelle ich mich auf” mit den entsprechenden Konsequenzen für den Personalbedarf.


    Wie gesagt, das kann man alles überlegen, abwägen, diskutieren, technisch oder strukturell oder kulturell einrichten aber: es ist nicht mit dem reinen “zu Hause sein” getan. Und nun schlicht ein etwas schräges Lob auf das Home Office singen und dabei in Moll die Klage anführen, dass “der Arbeitgeber” ein Kontroletti ist, übersieht die Komplexität des Themas.

    November seit 6820 Tagen

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