Im Vierersitz der Bahn heute neben mir eine Frau und gegenüber ein Mann, grob mein Alter, ein bisschen zerzaust und leise sprach er mit sich selbst die ganze Zeit, nur wenn er hochschaute und die Blicke sich trafen fiel man ihm irgendwie in die Augen. Schwer zu erklären. Nicht vereinahmend, auch nicht unbedingt unangenehm aber doch sehr rückhaltlos. Blaue Augen, relativ kleine Pupillen, er kratzte sich unablässig an einem Finger, vielleicht auch Drogen oder irgendwelche Medikamente, ich weiß es nicht, aber zapp, schon wieder in die Augen gefallen, keine Barriere darin. Verwirrend.
Dann kam eine weitere Frau zu uns, mittelgroß, mittelschlank, kurze schwarze Locken, unauffällige Gesichtszüge, trotzdem total präsent, alle schauten sie an, während sie sich hinsetzte und sie nahm ein Buch heraus und wir schauten sie weiter an und sie begann zu lesen und wir schauten sie weiter an und dann sagte die andere Frau: "S? Kennst du mich nicht mehr?" Die Lockenfrau blinzelte, die andere erklärte, woher sie sich kannten (beruflich) und gab ihr die Hand, die Lockenfrau erinnerte sich und nahm die Hand ihn ihre beiden Hände und wandte sich zu und sie begannen ein Gespräch. Und das dabei so irritierende war: die beiden Frauen unterschieden sich nicht großartig in Kleidung oder Figur, die "weitere Frau" war vielleicht sogar eher die konventionell hübschere und definitiv die, die im Gespräch die interessanteren Sachen sagte, aber trotzdem war es unmöglich, sie irgendwie wahrzunehmen, ich weiß jetzt schon nicht mehr, wie sie aussah oder in welchem Tonfall sie sprach, weil die Lockenfrau so unglaublich präsent war, als wäre ein Scheinwerfer über ihr installiert und alle anderen versinken im Schatten.
Sobald ich von der Lockenfrau wegschaute, fiel ich wieder in die Augen des Selbstgesprächlers, hangelte mich dann an der Präsenz der Lockenfrau wieder hervor, nur um dann wie ein Magnet an ihr zu kleben, mich mühsam zu lösen und wieder in die Augen des anderen zu fallen. Eigentlich wollte ich ja lesen. Ich war ziemlich froh, als ich aussteigen musste - selten so anstrengend Bahn gefahren. Das mit der mentalen Abrenzung von völlig Fremden übe ich noch.
(Wichtig: bis 6.6. nichts mehr über Vierersitze schreiben. Viel zu schwierig zu malen...)