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    Samstag, 9. Januar 2016
    Die Geißel der Empfindsamkeit

    Ich hatte das Thema schon einmal, dass ich manchmal denke, ich wäre eine andere Person. Eine solche, die morgens am offenen Fenster eine Tasse Grüntee trinkt und tief durchatmet zum Beispiel, das scheine ich oft im Tee- und Kaffeeladen zu denken, so spricht jedenfalls der Schrank über dem Wasserkocher. Oder eine Person, die täglich ein Gedicht lesen möchte. Gedichte müssten mir eigentlich gut gefallen, destillierte Erzählung sozusagen, total effizient. Deshalb habe ich mir 2014 zum Geburtstag einen Lyrikkalender gewünscht und auch bekommen, war unendlich begeistert, habe ihn im Büro auf dem Schreibtisch stehen nicht zuletzt auch, um feingeistig zu wirken. Und habe ihn exakt bis zum 8. Januar täglich abgerissen.

    Das fiel mir irgendwann nach den Sommerferien auf, seitdem erwähne ich immer mal im Büro, dass ich so viel zu tun habe, dass ich den Kalender seit dem 8. Januar nicht abreißen konnte. Das ist ein wunderschönes Motiv (weshalb ich es auch immer wieder verwende), aber natürlich komplett gelogen. Von allen anderen Punkten, die das widerlegen würden, abgesehen schon allein aus einem Grund: ich hatte letztes Jahr bis zum 9. Januar Urlaub. In Wirklichkeit habe ich den Kalender also nicht nur im Büro noch überhaupt nie verwendet sondern bin sogar in meinem Urlaub nur 8 Tage lang dazu gekommen, meinem angenommenen unwiderstehlichen Drang nach der täglichen Portion Lyrik nachzugehen. 7 eher, Samstag und Sonntag teilen sich nämlich ein Blatt. Glaube ich. Ist ja schon etwas her seit dem 3./4. Januar 2015.

    Bekanntlich halte ich Neujahrsvorsätze für eine Geißel der Menschheit, nicht nur der vorsatzfassenden Person selbst sondern auch ihres Umfeldes. Rücksichtsvoll nehme ich mir nichts vor, außer vielleicht letztes Jahr ganz heimlich, immer die Fingernägel toll zu lackieren, nee, nicht toll sondern überhaupt (das hat genau Null mal geklappt. Ich hatte aber etwa 1,5 Wochen lang lackierte Fußnägel). Und dieses Jahr ganz heimlich, eventuell im Kalender etwas weiterzukommen. Wenn auch nicht gleich ein ganzes Jahr.

    Schwierig wird das aber schon mit dem ersten Blatt, also: dem 8. Januar. War letztes Jahr ein Donnerstag. Mein Blick fällt seit einem Kalenderjahr arbeitstäglich auf dieses Gedicht, das "Die Verwandelten" betitelt ist, und ich konnte mich bisher einfach nicht dazu überwinden, es von vorn bis hinten durchzulesen. Ehrlich gesagt ist bei mir schon beim dritten Wort, "Saturn", Ende, Gedichte übers Weltall interessieren mich nicht. Trotzdem, man muss sich auch mal auf etwas einlassen, also habe ich die ersten vier Zeilen schon mehrfach überflogen, könnte aber nicht aus dem Kopf sagen, worum es geht. Saturn und irgendwie viele Adjektive. Ich bin ja keine Freundin des Adjektivs/Adverbs an sich. Vielleicht ist Ihnen das schon aufgefallen. Mir wird zum Beispiel umgehend schlecht, wenn in Dialogen zu viel beschreibendes Beiwerk verwendet wird. "Sagte er lachend", "bemerkte sie anzüglich", "flüsterte es traurig" - meine Güte, wenn lachend, anzüglich, traurig nicht aus dem Gesagten hervorgeht, hält man besser gleich den Mund.

    Egal, zurück zum Saturn, über den ich die nächste Strophe dann einfach nicht mehr lesen kann weil sie schon mit "Inselchen" anfängt und in einen skurrlilen Satzbau übergeht und dann bin ich schon wieder geistig weg, nicht entrückt sondern regelrecht entflohen. Vielleicht bin ich einfach niemand, der Klopstock liest, Klopstock macht ja in Empfindsamkeit. Empfindsamkeit ist mein Kryptonit. Grünes, denke ich.

    Hier, lesen Sie das einfach, dann kann ich das Blatt guten Gewissens abreißen. Tut mir leid, dass auch ich mein Umfeld jetzt mitgeißele.

    (Den Zustand des Blattes müssen Sie bitte entschuldigen, ist ja schon über 1 Jahr alt...)

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