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    Mittwoch, 25. März 2020

    Frau Fragmente sitzt an Ihrem Esstisch und bloggt, ich sitze an meinem Schreibtisch und blogge über Frau Fragmente.

    Vorweg: sie hat geduscht. Um 7:30 Uhr schon. Das stand heute morgen auf Twitter mal kurz als fraglich im Raum und ich denke, es ist für unser aller Wohlbefinden wichtig, diese Frage definitiv geklärt zu haben. Noch sind wir nicht beim Schmuddelbloggen angekommen, noch nicht!

    Weiter vorweg: Wir haben heute ein etwas anderes Set-up. Statt Frau Fragmente selbst sehe ich ihren Bildschirm und ihre Hände. Frau Fragmente, hihi, tippt mit den Mittelfingern! Sowas habe ich ja auch noch nicht gesehen. Tippt hier noch irgendwer mit den Mittelfingern?!

    Ansonsten haben wir technisch ganz klar aufgerüstet. Wir sind nicht über Google Hangout verbunden, sondern über Zoom, das macht sich sehr an der Qualität von Bild und Ton bemerkbar. Ich habe mittlerweile 4 Bildschirme auf meinem Schreibtisch, in diesem Moment zwei davon in Benutzung, was daran liegt, dass ich Arbeits- und Privatrechner streng getrennt halte. Kein Twitter, kein Blog hat je meinen Arbeitsrechner berührt. Ich bin firmenweit dafür bekannt, dass die IT sich jederzeit auf meinem Rechner einwählen kann, ohne Kompromittierendes zu entdecken. Gleichzeitig wäre es bei mir vermutlich noch egaler als bei den meisten anderen, denn ich bin, soweit ich weiß, die einzige, die Blog und Twitterhandle in der Personalakte vermerkt hat. Was daran liegt, dass ich "aus dem Internet bekannte" Personen eingestellt habe und es mir schlauer erschien, das sofort offenzulegen als im Nachhinein erpressbar zu sein - hier muss ich zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich die Personen ja noch nicht so gut kannte. Ob ich dafür jetzt auch firmenweit bekannt bin, weiß ich wiederum nicht. Die Mitlesenden schweigen dezent.

    Aber zurück zu frau Fragmente. Mit den Mittelfingern, wirklich, ich lüge nicht (bzw. sehr selten)! Was sie schreibt, kann ich nicht lesen, es sind zwei Absätze bisher und noch kein Titel, den dritten Absatz beginnt sie gerade. Sie hat irgendwie viel Krempel auf dem Tisch. Eben sah ich einen Fidget Spinner im Bild, nun steht vor ihr eine Sanduhr, aber nicht mit Sand glaube ich sondern mit Flüssigkeit und sie läuft von unten nach oben. Diese "Sand"uhr drehte Frau Fragmente vorhin entschlossen um, ich nehme also an, sie markiert die Zeit, die wir mit Schreiben verbringen werden. Weiter sehe ich in einer Glasschale Kaufmanns Kindercreme, die kleine Tube, eine weitere kleine Creme(?)-Tube und drei Textmarker, je einer in gelb, blau, orange. Ob sie die geplant verwendet, haben die Farben eine Bedeutung? Ich habe immer nur einen Textmarker, bei mir haben Farben keine Bedeutung, ich bin auch sozusagen die Anti-Synästhetikerin, Farben haben für mich keine Bedeutung und sind mir komplett wumpe.

    Was sehe ich noch? Nicht so viel. Aber immer, wenn ich den Tisch von Frau Fragmente sehe - es ist ein Glastisch - bekomme ich Kaffeedurst, denn bei meinem ersten Besuch bei ihr in dieser Wohnung gab es Kaffee mit Kardamom. Das hätte ich jetzt auch gern, aber dann doch wieder nicht so gern, dass ich aufstehen und ihn mir machen würde und sowieso ist Kaffee mit Kardamom nun halt mit diesem Glastisch und Frau Fragmente verbunden.

    Als ich zum ersten Mal bei Frau Fragmente überhaupt war, in einer anderen Wohnung damals, gab es Artischocken. Und sie hatte vorher abgefragt, was ich trinken möchte, ich glaube, sie hatte sogar extra ein Bier für mich eingekauft (das trinkt sie selbst nicht), ich weiß aber nicht, ob ich es getrunken habe, denn das war noch in einem ganz anderen Leben, ich hatte da noch echt lange Haare und als ich zu ihrer Tür reinkam sagte Frau Fragmente, sie habe aus dem Fenster schon in der Bahn, mit der ich kam, meine Haare gesehen, "wie flüssiges Gold". Wobei "wie flüssiges Gold" keine fragmentesche Kitschanwandlung ist, sondern ein Insiderwitz, der im Salon der Augenbrauenzupffrau entstand. Aber jedenfalls war da noch sehr, sehr viel anders, zum Beispiel war M noch so klein, dass Ausgehen abgesprochen werden musste und ich kannte Frau Fragmente auch noch kaum.

    Was mich gerade ganz verrückt macht: ich habe bei einem Kameraschwenk gesehen, dass die Spülmaschine bei Frau Fragmente weit offensteht. Wieso macht sie die denn bloß nicht zu?! Ich bin gerade selbst schon einmal kurz aufgestanden und wollte das tun, bis mir wieder auffiel, dass ich ja in einem ganz anderen Haus bin. Ich gewöhne ich an alles immer sehr schnell und bin daher jetzt schon total an Videokonferenzen gewöhnt, habe z.B. eben Gurkenscheibchen gegessen und mehrfach mit der Hand gezuckt, um Frau Fragmente auch etwas anzubieten. Vielleicht ist es auch die Müdigkeit. Wir sind beide sehr, sehr müde, aber - jedenfalls wenn ich für mich spreche - es ist keine Müdigkeit, die speziell durch Schlaf wegginge. Klar könnte ich schlafen gehen, es würde auch nicht schaden, aber ich wäre morgen in dieser Weise noch annähernd genauso müde. Es ist die Art Müdigkeit, die man sich einfängt, wenn man längere Zeit sehr weit über seine Grenzen lebt. Diese Müdigkeit verschwindet durch Alltag. Und da sind wir noch nicht wieder, noch lange nicht, deshalb werden wir noch ein Weilchen müde bleiben.

    Dienstag, 24. März 2020

    Zum ersten Mal seit dem 11. März konnte ich heute irgendwann zwischendrin mal Durchschnaufen. Damit meine ich, es gab einen Moment, in dem ich nicht dachte "egal was, ich muss jetzt x und y und z gleichzeitig machen, weil sonst!", in dem ich nicht mit Person A telefonierte während Person B und C auf den anderen Leitungen anriefen, in dem ich nicht so viele neue E-Mails minütlich bekam, dass ich noch nicht einmal mehr alle Betreffzeilen lesen konnte und schauen, ob was wirklich GANZ wichtiges dabei war.

    Oder vielleicht auch: es ist jetzt nur noch 150% zu viel, nicht mehr 250%.

    Und was passiert dann in so einem Moment? Man wird müde, fröstelig, kippelig. Das ist wie beim Radfahren. Hat man nicht mehr richtig Tempo, fällt man um.

    Montag, 23. März 2020

    Das ist jetzt auch die Zeit, in der ich meine eigenen Worte wieder schlucken muss. Wie ich vor 3 Wochen gesagt habe, dass ich natürlich dieses Wochenende nach München fahre, auch wenn das Treffen an sich abgesagt wird, egal, fahre ich halt so. Und vor zwei Wochen gesagt habe, dass ich natürlich nächstes Wochenende zum Karaoke gehe, lol, ist doch im kleinen Rahmen. Und vor einer Woche gesagt habe "Home Office geht bei uns wirklich nicht."

    Montag, 23. März 2020

    Heute hätte ich gut mal wieder ein Buch lesen können, aber ich hatte die Ruhe dazu nicht. Wahrscheinlich dauert das noch ein bisschen. Wahrscheinlich muss sich erst alles noch ein bisschen sortieren, eine Routine erkennbar werden.

    Über den Tag an sich kann ich mich ansonsten aber nicht beklagen, er war gemütlich, ich habe Freunde (online) getroffen, guten Kuchen gegessen, viel die Katzen gekrault, wenig gearbeitet und nicht aufgeräumt oder geputzt, nur den Staubsaugerroboter habe ich herumfahren lassen

    Und die ersten Pläne für "danach" gemacht.

    Sonntag, 22. März 2020

    11 Stunden Schlaf reichen nicht, um eine Woche mit 18-Stunden-Arbeitstagen auszugleichen. Ich nehme das zur Kenntnis.

    Dafür ist die Wohnung wieder einigermaßen zugänglich. Es ist noch nicht schön, aber auch nicht mehr schlimm. Vielleicht kommt bald die Zeit, in der ich mal wieder ein Buch lesen kann? Man hört ja schon von Leuten, die ihr Strickzeug raussuchen oder gar anfangen, sich zu langweilen. Das ist bei mir noch ein gutes Stück weg, ich bin immer noch mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs, wenn das nachlässt, muss ich mich erstmal erholen und dann das aufholen, was an Alltag liegengeblieben ist und dann kann ich mir überlegen, was ich alles mal (zu Hause) machen wollte und dann, dann irgendwann wird mir vielleicht mal langweilig. Denke, ein halbes Jahr kriege ich locker rum. Kann mir aber auch vorstellen, dass es länger dauert.

    Jetzt muss ich jedenfalls erstmal wieder schlafen.

    Samstag, 21. März 2020

    Die Bürosituation ist vorerst unter Kontrolle. Alle sind da, wo sie sein sollen und alles funktioniert so ganz generell, auch wenn sich natürlich einige Abläufe neu einruckeln müssen, jetzt umständlicher sind oder vielleicht auch einfach nur ungewohnt, man wird sehen. Ich bin sehr neugierig, wie sich das entwickelt und wie jeder am Ende, wenn wir wieder zurückkönnen (bzw. wollen - können könnten wir jetzt auch, natürlich), die Situation für sich bewertet: wäre es schöner immer im Homeoffice? Oder doch eher nicht? Warum ja, warum nein? iSehr spannend! Ich freue mich schon darauf.

    Dafür ist die Haushaltssituation jetzt entglitten. Die Putzfrau kommt ja derzeit nicht und man trägt nicht einfach mal so einen Arbeitsplatz in eine Wohnung, ohne dass sich das an der Ordnung bemerkbar machen würde. Es herrscht Durcheinander, Sachen liegen herum, Dinge sind nicht zugänglich, ich mag das nicht. Aber morgen und übermorgen sollte ich Zeit zum aufräumen haben. Wenn ich nicht einfach die ganze Zeit schlafen muss.

    Zwei Verabredungen habe ich auch schon, einmal zu Drinks und einmal zu Kaffee und Kuchen. Zumindest den Teil vom Zimmer, den man in der Kamera sieht, werde ich also aufräumen müssen.

    Freitag, 20. März 2020

    Die Gegenwart kam plötzlich: ich habe in den letzten 72 Stunden eine sehr konservative, präsenzorientierte Organisation, der Papiermassen heilig sind auf Homeoffice umgestellt.

    Ich bin sehr müde.

    Mittwoch, 18. März 2020

    Frau Fragmente sitzt mir im Google Hangout gegenüber und bloggt, ich sitze an meinem Schreibtisch und blogge über Frau Fragmente.

    Tja. Das hatten wir uns insgesamt ein bisschen anders vorgestellt. Ein bisschen physischer, ein bisschen leichtherziger, ein bisschen entspannter. Ich glaube, ich darf hier für Frau Fragmente mitsprechen.

    Ich weiß gar nicht mehr, wann wir dieses Projekt begonnen haben, es scheint mir endlos her, tatsächlich kann es sich aber nur um wenige Wochen - drei? vier? - handeln. Tatsächlich weiß ich aber schon nicht mehr genau, was ich heute morgen gemacht habe oder über wen ich vor drei Tagen auf Twitter kryptisch schimpfte (Frau Fragmente fragte gerade danach).

    Es sind merkwürdige Zeiten, in denen alles unglaublich beschleunigt passiert aber gleichzeitig auch alles in einer unglaublichen Klarheit reduziert ist, alle Sterne brillieren, alle Sollbruchstellen brechen, es gibt sehr wenig "dazwischen" im Moment.

    Frau Fragmente hatte einen Höllentag, das weiß ich, und man sieht es ihr an. Nicht, wenn man sie nicht kennt - es ist nichts mit ihrem Gesicht oder ihrer Kleidung oder ihrer Frisur oder so. Es ist die Körperhaltung, die einfach weniger entspannt ist als sonst und die Gesten, die sehr müde wirken. Ich nehme an, bei mir ist das nicht anders, ich bin heute um 20 Uhr zum ersten Mal dazu gekommen, etwas zu essen (Aufbackpizza), gegen Nachmittag irgendwann habe ich auf ein kurzes Jammern eine lange, vermutlich liebe Nachricht von einer Freundin bekommen und bin noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen (und sie wunderte sich darüber offenbar so, dass sie sich schon für die Nachricht entschuldigte, was mir jetzt furchtbar unangenehm ist) und ich war zwar den ganzen Tag zu Hause (im Home Office) aber habe die Familie eigentlich nicht gesehen, weiß nicht, ob die Katzen Futter haben, glaube, es ist Wäsche in der Waschmaschine und es stehen noch diverse Taschen und Kartons mit Bürozeug in der Küche. Das muss ich alles irgendwann mal in Ordnung bringen, aber ich mache nur Telefon, Telefon, Telefon. Und Telefon.

    Mein Jammern hatte folgenden Anlass: ich befinde mich zum ersten Mal in meinem Leben in einer beruflichen Situation, die mich überfordert. Ich bin sehr allein mit meinen Entscheidungen und sie sind mir ein wenig zu groß. Kann man aber derzeit nichts dran machen, ist also vermutlich irrelevant.

    Ich bin wirklich ganz außerordentlich gespannt, was Frau Fragmente heute schreibt. Ob es ihr gelingt, ein ganz, ganz anderes Thema als "Corona" zu wählen? Ich finde durchaus, dass wir uns auch der Aufmerksamkeitssteuerung widmen müssen, nicht aus dem Auge verlieren dürfen, dass es auch noch unendlich viele andere Dinge auf der Welt gibt. Aber natürlich ist auch Frau Fragmentes Tag von diesem Thema beherrscht, genau wie meiner, wir sind beide noch nicht an dem Punkt, an dem wir im Homeoffice Pediküre machen könnten. Trotzdem: es gibt auch andere Themen und es ist wichtig, auch anders zu denken, nicht in einen Strudel zu geraten. Ich will da mit aller Macht gegenhalten aber: das ist gerade schwer.

    Schauen wir mal, was da geht: auf dem Balkon beginnt der Apfelbaum zu blühen. Ich habe ihn im Herbst ganz radikal zurückgeschnitten hatte schon Angst, es sei zu viel gewesen. Aber nun kommen kleine, hellgrüne Blätter, darüber freue ich mich.

    Gerade sehe ich aus dem Augenwinkel hinter Frau Fragmente auch noch zwei Kerzen, die vor einem kleinen Fenster stehen, das ich allen Ernstes noch nie bemerkt habe. Meine Güte, wie kann man häufig bei jemandem in der Wohnung sein und dabei ein Fenster übersehen? Manchmal wundere ich mich sehr über mich. Was macht sie wohl mit den Kerzen? Ist sie jemand, der sich abends eine Kerze anzündet? Wo stellt sie die dann hin? Auf den Couchtisch und sie selbst sitzt (oder liegt?) auf dem Sofa? Oder auf den Esstisch, sitzt sie abends am Esstisch außer sie hangoutet mit mir? Ich würde denken, wenn sie etwas zu schreiben hat sitzt sie normal eher am Schreibtisch. Warum ist sie da eigentlich gerade nicht? Und isst sie am Esstisch oder isst sie auf dem Sofa, beim Fernsehen? Ich weiß das alles nicht, man weiß so wenig über die Leute, das ist ganz grauenhaft, man muss viel mehr fragen.

    Vielleicht machen wir das einfach alle morgen. Fragen jemand was leichtes, heiteres, in der aktuellen Situation unerwartetes. Was liest du gerade? Wo beantwortest du deine Post? Was ist aktuell dein Lieblingssong? Ich stelle mir das sehr wohltuend vor.

    Dienstag, 17. März 2020

    Der Anlass ist natürlich kein schöner, aber die Dynamik ist überwältigend. Überall brechen Strukturen auf, bröckeln Mauern, gegen die ich jahrelang gerannt bin, alles wird möglich, niemand diskutiert mehr aus Prinzip, es herrscht purer Pragmatismus und das ist eben genau mein Ding: wer sagt "ich kann das" macht das und zeigt es anderen und keiner redet mehr sinnlos gefühlig herum, dafür ist überhaupt keine Zeit.

    Wir werden verändert auf der anderen Seite dieser Krise herauskommen und daran wird auch einiges positiv sein.


    (Dass es wirtschaftlich noch ganz, ganz bitter wird, will ich damit nicht kleinreden. Beide Beobachtungen können aber auch einfach so nebeneinander stehen.)

    Dienstag, 17. März 2020

    Schlafpuppenaugen. Hier geht momentan nix, zu viel Arbeit, rund um die Uhr. Aber mein sehr starker Eindruck ist, dass das in zwei Wochen - maximal einer - gefolgt sein wird von sehr viel Ruhe. So lange halten wir durch.

    (Während ich diese paar Sätze getippt habe, bin ich zweimal zwischendrin eingeschlafen. Gute Nacht!)

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