Sand, Sand, Sand. Wenn man ein Kind hat, ist von mindestens März bis Oktober immer überall Sand und von November bis Februar zumindest noch manchmal Sand in der Schuhen, in den Hosen, in den Jacken, überall. Früher habe ich gegenüber eines Spielplatzes gewohnt und im Frühjahr fasziniert beobachtet, wie Lastwagen kamen und neuen Sand in den Sandkasten kippten. Naiv ging ich damals davon aus, der alte Sand sei absichtlich ausgetauscht worden, aus Hygienegründen. In Wirklichkeit kann es nur so gewesen sein, dass der Sand das Jahr über von Kindern davongetragen wurde und nun schlichtweg nachgefüllt werden musste.
Mehrere Jahre ging ich nun davon aus, die Sandmenge würde mit steigendem Kindesalter wieder abnehmen. Spätestens im Schulalter spielt man doch nicht mehr im Sand? Dummerweise befindet sich aber auf dem Schulhof ein großes Sandareal, und natürlich spielt man mit Sand. Nicht mit Eimer und Schüppchen, aber man bewirft sich damit und man buddelt sich von Kopf bis Fuß ein, man übt darin Handstand, Kopfstand und Radschlag und man balgt sich darin.
Trotzdem, so sollte man meinen, müsste die Sandmenge doch mindestens konstant sein. Ist sie aber nicht, sie steigt. Und ich weiß jetzt auch warum. Ganz absichtlich füllen sich nämlich Mademoiselle, das Zweitkind und das Mittwochsbesuchskind tagtäglich in der Schule die Jacken- und Hosentaschen prall mit Sand, um diesen bei uns im Hof an einer geheimen Stelle aufzuschütten. Deshalb veschwinden sie auch auf dem Heimweg immer so plötzlich, wollen vorlaufen oder wollen noch ein paar Minuten im Hof bleiben, während ich schonmal hochgehe. Und manchmal vergessen sie das und kommen mit ihren sandgefüllten sämtlichen Taschen hoch, werfen ihre Jacken in die Ecke und sich selbst auf den Boden und auch aus den Schuhen quellen kleine Sandberge. Es ist absolut unglaublich.
Wann hört das denn mal auf mit dem Sand? In der Pubertät?!
Heute vor zig Jahren:
Ich rufe den Ah an, aber der ist nicht da.
Frau N., genervt ins Telefon: "Ja??!"
Parkettmeister: Hier ist der Parkettmeister. Sind Sie Frau N.?
Frau N: Ja!
Parkettmeister: Die Frau von Herrn N.?
Frau N: Ja!
Parkettmeister: Der ist nicht da?!
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Kann ich mit Ihnen über das Parkett reden?
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Also, ich war ja gestern mit dem Hausverwalter in Ihrer Wohnung. Das scheint alles trocken zu sein.
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Das ist ja Altbau. Sie haben da so Sauerkrautdecken...
Frau N: Ja?
Parkettmeister: Vielleicht auch einfach eine Riegips-Platte mit was man so hatte. Jedenfalls ist es trocken, manchmal braucht so ein Altbau ja auch etwas Waser, haha, bzw. es ist doch sowieso alles beim Nachbarn drunter rausgelaufen, nicht?
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Es gibt bei der Instandsetzung zwei Möglichkeiten. Die einfachste ist, dass wir die Nutzschicht von den zwei beschädigten Brettern abtragen und eine neue Nutzschicht aufbringen. Dann müssen wir den Verbund nicht beschädigen.
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Alternativ können wir auch komplett austauschen, aber dann müssen wir die Küche ganz rausnehmen, das möchten sie vermutlich nicht.
Frau N: Ja!
Parkettmeister: Wenn wir die Nutzschicht tauschen sieht man das auch nicht - Voraussetzung ist, dass darunter wirklich alles gut getrocknet und nicht zu sehr aufgewellt ist, aber danach sieht es ja aus.
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Da ist an einigen Stellen ein bisschen Spiel im Boden, aber das war vor dem Wasserschaden schon, oder?
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Haben Sie das selbst verlegt?
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Haben Sie zufällig noch ein paar Restbretter im Keller, von denen wir die Nutzschicht verwenden könnten?
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Na, das ist ja alles wunderbar.
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Gut. Also. Dann machen wir das so...
Frau N: Ja.
Parkettmeister: Ähm - verstehen Sie eigentlich, was ich sage?!
Frau N: Ja!!!
Ts. Weiß gar nicht, was der hat. Ich habe doch eindeutige Antworten gegeben!
Heute vor zig Jahren:
Nichts besonderes.
Der Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad ist nach wie vor schöner als der Weg zur Arbeit mit der Bahn. Gerade im Frühjahr/Frühsommer, da gibt es Entenküken zu sehen statt leichtbekleideter Rentnergruppen. Letztere scheinen immer erst im Hochsommer auf Tour zu gehen, das ist doch eigentlich schlecht überlegt. An dieser Stelle fällt mir sogar ein, dass die jährliche Radtour von Papa N. ebenfalls regelmäßig im Hochsommer stattfindet. Ich gehe aber davon aus, dass er sich angemessen zu kleiden weiß.
Später saß ich dann noch 1,5 Stunden auf dem Schulhof, weil das Kind nicht runterkommen wollte und ich nicht raufgehen wollte. Um 17 Uhr schloss die Betreuung und das Kind wurde rausgeworfen. "Aussitzen" ist eins meiner liebsten Erziehungskonzepte, gerade wenn man dabei entspannt in der Sonne ein Buch lesen kann.
Heute vor zig Jahren:
Heute ist Muttertag. Wir gehen alle zusammen essen. Abends fahre ich mit Pe in das Dorf, in dem ihre Oma wohnt.
Mitten im Wohnzimmer meiner Freundin wohnt nun eine Glucke mit ihren 5 eigenen Küken, einem fremden Küken und 2 (glaube ich, es war so ein Gewusel) Entenküken, alle heute 3 Tage alt. Wie es genau dazu kam war eine etwas verwirrende Geschichte, aber es macht unglaublich viel Spaß, die Entenküken in einem separaten wannenartigen Dings schwimmen zu lassen oder zuzuschauen, wie die Küken auf die Glucke hüpfen, um von ihrem Rücken fröhlich herunterrutschen und meist gleich wieder hochhüpfen. Nach einer Viertelstunde hatten sie aber genug gespielt und haben sich unter dem Gefieder der Glucke verkrochen. Hach. Niedlich!
Heute vor zig Jahren:
Wir treffen schon wieder Illy, diesmal läuft sie mit Hühnchen rum und mit noch einer anderen mit roten Haaren. Heute will sie Pe zusammenschlagen wegen der Sache mit dem Tagebuch von Pe2. Hinterher fahren wir wieder Einaufswagen und verstecken ihn gut irgendwo im Hofgarten.
Papa und Mama N. feierten heute Goldene Hochzeit und wurden zu diesem Zweck unangekündigt von den Kindern in die Nachbarstadt entführt, um dort - Romantikalarm - ein graviertes Schloss an der Hohenzollernbrücke anzubringen. Um dies thematisch vorzubereiten, erhielten sie beim Hochzeitstagfrühstück eine Schachtel mit eben diesem Schloss.
Papa N: Guck mal, ein Vorhängeschloss. Sojet kann man ja immer gut gebrauchen!
Schwester N: Überleg mal, was wir damit wohl machen.
Mama N: Was, machen wir das an diese Brücke? Das ist ja toll!
Papa N: An eine Brücke?!
Mama N: Du weißt doch, diese Brücke in Köln.
Papa N: Das schöne Schloss an eine Brücke in Köln?! Dat daut mich awwer wieh!!
Schwester N: Wenn Dir Köln zu weit ist, können wir auch hier gucken, ich glaube, das gibt es hier auch...
Papa N: Das wär doch ein schönes Schloss für an die Kellertür!
Das lief also nicht ganz so wie geplant. Zum geplanten Ausflug kam es aber trotzdem. Und, eigentlich wenig verwunderlich: Wenn Einzelpersonen der Familie N. schon immer die merkwürdigsten Begegnungen auf der Straße haben, wird die gesammelte Sippe spontanes Opfer eines Fernsehteams. Während die mittlere Generation weitgehend im Hintergrund bleiben konnte, wurden die Großeltern vor die Kamera gezerrt und Mademoiselle präsentierte sich ganz von selbst so ausführlich wie möglich und durfte ihre kleinen Finger in verschiedenen Positionen auf dem Vorhängeschloss filmen lassen.
Heute vor zig Jahren:
Pe ist wieder da, wir holen uns Martini und fahren uns gegenseitig im Einkaufswagen umher. Später wollen wir uns mal das schöne Hotel am Park durchs Fenster genauer angucken und klettern da hoch und ich verliere das Gleichgewicht und knalle mit dem Gesicht gegen das Fenster und schlage mir die Lippe auf. Am Fenster ist voll der Blutfleck und alle Leute drinnen rennen hin und gucken raus und wir rennen weg. Wir gehen in die Spezialkneipe aber fliegen da raus weil ich alles mit Blut volltropfe, also gehen wir in den Park.
Wenn man außnahmsweise mal ganz pünktlich in der Schule sein muss, obwohl nicht Mittwoch ist, weil nämlich ein Vorlesewettbewerb stattfindet und man Jurymitglied ist, dann entwickelt das eigene Kind natürlich auf dem Schulweg mysteriöse Schmerzen und Weinen (angenommerner Grund: Aufmerksamkeitsdefizit verursacht durch beruhigende Konversation mit dem Zweitkind/Vorlesewettbewerbteilnehmerin). Man schafft es natürlich gerade noch pünktlich, aber dann steht das Zweitkind ohne Fahrradschloss auf dem Schulhof und man kann es nicht zurückschicken, weil es doch pünktlich da sein muss als Vorlesewettbewerbteilnehmerin. Hat dann aber alles noch geklappt.
Die Jury bestand aus der Schulleiterin, den drei Siegern des letzten Jahres, einem Vertreter der Schulsozialarbeit und mir.
Zuerst lasen die Klassensieger der vierten Klassen. Catcalls und begeistertes Johlen bei der Begrüßungsrede der Direktorin. Ansonsten alles sehr eingespielt, Piece-Zeichen wenn alle ruhig werden sollen, und ein Blick der Klassenlehrer reicht aus, um größere Unfugsaktionen zu unterbinden. Beim Lesen stach ein Junge heraus, der seinen vorbereiteten Text scheinbar auswendig konnte und daher Blicke und Gesten nutzen konnte, um das Publikum um den Finger zu wickeln. Der gewann dann auch, sank vor der Jury auf die Knie und küsste den Fußboden der Cafeteria, bevor sich seine Kumpanen auf ihn warfen.
Danach die zweiten Klassen - hier klaffte das Lesevermögen zwischen dem vorbereiteten Text und dem unbekannten Text besonders weit auseinander. Nicht wirklich verblüffend, aber anstrengend für den Zuhörer. Während des Zusammenrechnens der Punkte gab es in den zweiten Klassen ein moderiertes Bewegungsprogramm. Spontan kamen zwei Zweitklässlerinnen nach vorn und übernahmen das Vorturnen. Nebenher ein kleiner Juryskandal, da zwei Jurymitglieder jüngeren Lebensalters ganz offensichtlich nicht die Lesekompetenz sondern die Beliebtheit einer Teilnehmerin bewertet hatten. Und am Ende Tränen bei der kleinen Letztplatzierten - in der zweiten Klasse ist es noch schwer zu verstehen, dass man die Viertbeste von 100 geworden ist und nicht die Schlechteste von 4. Ich hätte fast mitgeweint.
Tumultartige Szenen in den dritten Klassen - dieser Jahrgang ist mit Abstand der Lauteste und skandierte klassenweise in Sprechchören die Namen der jeweiligen Favoriten unterbrochen von Beeinflussungsversuchen der Jury ("Ey Hülya schöne Haare!", "Ich will ein Kind von Sie!!", "Frau Schulleiterin Herz Herz Herz!!!" (mit Gestik). Das Zweitkind liest bei dieser Runde mit und es ist schwerer als gedacht, sie unvoreingenommen zu bewerten. Da ich ihre Stimme kenne ist es für mich viel leichter, ihr zu folgen als den anderen, natürlich klingt sie allein durch ihre Vertrautheit deutlicher für mich. Sie hat sich von allen den anspruchsvollsten Text herausgesucht, kein typisches Kinderbuch sondern Momo und daraus eine Stelle, in der es um Freundschaft geht. Das liest sie flüssig, deutlich und gut betont, aber leider viel, viel zu schnell. Zum Glück liest sie den unbekannten Text aber genauso flüssig, damit ist sie den anderen weit voraus die über Wörter wie "Transparent", "niegelnagelneu", "Drahtesel" und "erschrickt" stolpern. Am Ende gewinnt sie mit denkbar knappem Vorsprung (103 Punkte zu 102) vor einem anderen Mädchen, das im vorbereiteten Text sang und Tiergeräusche machte, den unbekannten Text aber nicht verständlich vortragen konnte. Der Saal tobte.
Es war eine wunderbare Veranstaltung und ich fühlte mich hervorragend unterhalten. Das wirklich einzige Manko war, dass es keinen Kaffee gab. Nein, das ist nicht ganz richtig, denn im allerletzten Moment vor Beginn der nächsten Runde stürmte immer der eine oder andere Lehrer mit einer Tasse Kaffee hinter den Jurytisch. Sowieso sieht man an dieser Schule immer wieder Lehrer mit bunten Kaffeetassen (keine Thermobecher, keine Pappbecher), aber wo der Kaffee herkommt ist ein Mysterium. Im Lehrerzimmer und im Sekretariat ist er jedenfalls nicht, da habe ich schon geschaut. Und jedes Mal, wenn ich irgendeinen Lehrer an der Schule wegen irgendwas treffe und mir Kaffee angeboten wird, verschwindert dieser Lehrer dann längere Zeit in unbestimmte Richtung, um diesen zu beschaffen. Ein paar Mal habe ich schon angeboten, selbst zu gehen wenn man mir nur sagen würde, wohin, oder mitzukommen um Tragen zu helfen, gerade wenn es um Kaffee für eine größere Runde ging. Erfolglos. Der Lehrkörper verteidigt sein Kaffeemonopol mit allen Mitteln. Ich gehe sehr davon aus, dass Kaffee an staatlichen Schulen eine privatfinanzierte Angelegenheit ist. Daher ist mein aktueller Plan, bei einem der nächsten Besuche das eine oder andere Pfund hochwertigen Kaffees mitzubringen und mich derart in den Inner Coffee Circle einzukaufen.
Sollte das nicht gelingen, wende ich mich an die Schulsozialarbeit.
Heute vor zig Jahren:
Der Vertrauenslehrer hat mich in der Pause abgefangen wegen dem Essay und wir saßen dann mit Frau R. in seinem Büro und ich habe voll Ärger bekommen weil ich nicht (!) das Essay von wem anders vorgelesen habe und weil ich mir so schnell tolle Essays ausdenken kann dass man meint, ich hätte das als Hausaufgabe gemacht. Ich habe aufgemuckt dass ich das unfair finde und der Vertrauenslehrer meinte dass man in der Schule auch lernen muss, Regeln zu beachten und ich hätte gleich sagen sollen, dass ich die Hausaufgaben nicht habe. Ich habe gesagt, dass ich das nicht einsehe weil die Hausaufgaben doch dazu da sind dass man Sachen gut lernt und wenn ich das mit dem Essay gut kann ist doch alles in Ordnung. Und ich habe direkt danach gesagt, als ich nochmal vorlesen sollte, dass ich das nicht habe. Was kann ich dafür wenn Frau R. nicht an meine Genialität glauben will, hahaha. Aber jedenfalls hat er gesagt ich soll froh sein dass ich keine Klassenkonferenz kriege. Ich wüsste aber auch gerne mal wofür überhaupt eine Klassenkonferenz. Ich hab ja sonst immer die Hausaufgaben und gestern einmal nicht, da gibt es doch keine Klassenkonferenz. Und dass dieses Riesentheater gekommen ist, war nicht meine Schuld sondern die Frau R. ist selbst schuld weil sie mir nicht geglaubt hat. Man kann denen voll nicht helfen und sowieso finde ich dass ein Vertrauenslehrer nicht so Drohungen machen sollte von denen jeder weiß, dass das nur ausgedacht ist weil ihm sonst nichts einfällt.
Uhhh, ich habe meinen Kreislauf im Büro vergessen. Oder beim Mittagessen mit der Kollegin im Mutterschutz. Oder an der Schule. Oder im Kindergarten? Vielleicht auch auf dem Kindergeburtstag oder in der Bücherei. Könnte auch im Fahrradladen gewesen sein oder bei der Augenbrauenzupföse. Wenn nicht da, dann im Supermarkt, in der Drogerie oder in der Apotheke. Sonst bei der Post oder im Tiergeschäft oder im Teeladen. Was anderes kommt eigentlich nicht in Frage.
Vielleicht war es auch nur etwas viel Sonne.
Heute vor zig Jahren:
Riesentheater in Englisch. Ich habe die Hausaufgaben vergessen, weil die die ja immer mit Pe zusammen mache und sie nicht da ist. Wir sollten ein Essay schreiben. Und ich kam natürlich dran und habe mir dann spontan etwas ausgedacht und auf meinen Ordner geguckt und getan als lese ich das vor. Das hat gut geklappt und ich dachte schon, ich bin nochmal davon gekommen. Und dann hat Frau R. mich voll gelobt und sagte, der Aufbau von meinem Essay ist sehr gut und ich soll das deshalb nochmal lesen. Scheiße. Ich konnte das natürlich nicht nochmal lesen weil ich mir das ja ausgedacht hatte in dem Moment. Sie hat mir das dann nicht geglaubt und dachte ich will sie verarschen. Und dann dachte sie, dass mir jemand sein Essay zugeschoben hat und ist total ausgerastet und hat alle Essays eingesammelt und nimmt die jetzt mit nach Hause um zu sehen, wer mir seins gegeben hat. Ich weiß auch nicht, was dann passiert wenn sie merkt, dass mir wirklich keiner sein Essay gegeben hat.
Morgens früh in den Rapunzelturm hoch, keinen Kaffee vorfinden, wieder runter und Kaffee holen, noch bevor der Kaffee getrunken ist das "Dingdong" für die Räumungsübung hören, also wieder runter, diesmal zu Fuß. Eine halbe Stunde auf der Straße stehen, dann eine gute halbe Stunde im Café sitzen und, Überraschung, Kaffee trinken. Wieder hoch in den Rapunzelturm, 45 Minuten später wieder runter zu einem Termin. Beim Termin Kaffee getrunken und dann aufgefordert worden, einen Aperitif zu verkosten. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem man sich denkt: Verdammt, ich hätte heute schon irgendwann einmal etwas essen sollen!
Das allernetteste war aber der neue kleine Mitarbeiter, der kurz nach dem Dingdong erst am Rapunzelturm eintraf, feststellte, dass die Aufzüge nicht funktionierten und - hochmotiviert - zu Fuß in den 25. Stock emporklomm. Um dort dann die Ansage der Räumung zu vernehmen und derart Hals über Kopf wieder die Treppen hinunter aufzubrechen, dass er sogar sein Frühstück einfach im Gang stehen ließ. Und taufrisch sah er nach dieser Aktion auch noch aus. Und war gut gelaunt!
Wir anderen sind einfach alle viel zu abgestumpft.
Heute vor zig Jahren:
Ich fliege wieder aus Politik raus weil ich mitgeschrieben habe, was der LehrerB gesagt hat. Das war überhaupt das erste Mal, dass ich was mitgeschrieben habe. Mache ich bestimmt nicht nochmal.
Eigentlich war es so geplant, dass ich puenktlich um 14:30 Uhr das Buero verlasse, um 15 Uhr zu Hause bin und Fuesse hochlegenderweise einen Kaffee trinke, einen leckeren Snack fuer die Familie vorbereite, mit nebenher die Naegel mache und dann ein kreatives Posting aus den frisch lackierten Fingern fliesst bevor ich geduscht und gefoehnt zur Abendverabredung aufbreche.
Dann kam ich aber erst um 15:30 los und musste noch ein Kleid fuer ein anderes Kind kaufen, was sonst nur noch morgen moeglich gewesen waere aber Mittwochs ist ja, wie Sie wissen, eh immer schon alles moegliche und ein Zweitkind dabei und niemand moechte mit zwei 7jaehrigen ins Kaufhaus gehen. Pick your battles.
Jedoch traf ich zufaellig Mademoiselle vor der Schule und noch eine Freundin von ihr mit Mutter, die gingen zum Friseur, also gingen wir auch zum Friseur und dann Eis essen und dann tatsaechlich auch nach Hause, da musste ich dann aber sofort wieder los. Kein Kaffee, kein leckerer Snack, keine Naegel, kein kreatives Posting. So kann es gehen. Aber dafuer gibt es gleich Bier, Mann und Kind sind zweifelsohne kompetente Selbstversorger und man muss hier dann halt jetzt dies lesen. Und vielleicht macht mit ja eine der Kolleginnen die Naegel.
Heute vor zig Jahren:
Pe fährt zum Schüleraustausch.
A propros Traumata.
Ich habe da ein kleines Ding mit kleinen Insekten. Und zwar habe ich im Kindergartenalter einmal bei einer Freundin übernachtet, die in so einer Wohnung wohnte, wie es sie damals im Ruhrgebiet (vielleicht auch anderswo, das weiß ich nicht) häufiger gab: eine normale Wohnung mit Küche, Bad, 1-2 Zimmern und dann über den Hausflur hinweg noch zwei kleine Zimmer, die Kinderzimmer. Bei meinen Eltern im Haus gab es das auch, dort hieß es "Gesellenzimmer", unten im Haus war eine Bäckerei, darüber verschiedene Wohnungen und eben zwei Gesellenzimmer für die Gesellen, die am Mittagstisch des Bäckermeisters mitaßen. Die Toilette war eh im Treppenhaus und im Gesellenzimmer war ein Handwaschbecken, duschen/baden ging man in der Badeanstalt, so hat Papa N. es mir erzählt, der dieses Gesellenzimmer bis zu seiner Hochzeit mit Mama N. bewohnte.
So eine Wohnung war es und eins der kleinen Zimmer gehörte meiner Freundin und eins ihrem Bruder, der Bruder war älter und hatte einen Fernseher und abends schaute er einen Film und wir schauten heimlich durch die einen Spalt weit geöffnete Tür mit. Bei dem Film handelte es sich - das habe ich mir Jahre später ergoogelt - um Phase IV. Die Handlung ist recht einfach: Ameisen mutieren und fressen alle anderen Lebewesen auf.
Ich entwickelte daraus ein ziemliches Problem mit kleinen Insekten, dass noch in derselben Nacht begann, mit Alpträumen von Ameisen nämlich, die meine Hand und meinen Kuschelhund auffraßen und leider auch nicht mehr weggingen. Es folgten sehr unruhige Nächte für meine Eltern, viele davon, ich erinnere mich an Ameisenstraßen auf meiner Bettdecke, auf dem Fußboden, auf meinen Armen, auf meinen Eltern. Meine älteste Schwester tauschte dann mit mir das Bett - wir teilten uns ein Hochbett und sie versicherte mir glaubhaft, dass es den Ameisen absolut unmöglich sei, ihre Krabbelfüße auf die obere Etage des Hochbettes zu setzen, es sei völlig ausgeschlossen. Sie hatte recht, dort war ich in Sicherheit und dort harrte ich aus wenn ich nachts aufwachte, bis in der Küche immer gegen 3 Uhr morgens das Licht anging, weil Papa N. dann zur Arbeit musste. Er schaute nach uns, sah mich wach im Bett sitzen, hob mich heraus und wir kontrollierten die ganze Wohnung auf Ameisen. "Keine da", sagte er, aber das stimmte nicht, sie waren überall, und so saß ich mit angezogenen Beinen auf der Bank neben dem Ofen und aß Joghurt, während er seine Arbeitssachen zusammenpackte. Richtig erklären konnte ich das alles nicht, dazu war ich vermutlich einfach noch zu klein und den Film hatte ich auch längst vergessen, aber irgendwann kamen die Ameisen auch tagsüber und dann wurde der Kinderarzt eingeschaltet und es gab kleine blaue Pillen.
Ob die blauen Pillen wirkten oder ob sich im Gehirn irgendwelche Selbstheilungskräfte aktivierten, ich weiß es nicht, aber die Ameisen wurden weniger, wurden zu einem gelegentlichen Alptraum, und traten schließlich an Platz zwei hinter einen neuen, häufigeren Alptraum, von Saurons Auge nämlich, zurück, das ich immer dann sah, wenn ich die Augen ganz lange ganz fest zusammenkniff. Probieren Sie das mal aus, da sieht man doch wirklich ein gruseliges Auge! Der Herr der Ringe hat mir übrigens im Grundschulalter die Schwester vorgelesen, die mir vorher noch so fürsorglich ihr oberes Hochbett überlassen hatte.
Letztendlich waren aber sowohl die Ameisen als auch Saurons Auge unter Kontrolle, es blieb nur ein Problem mit gehäuftem Auftreten kleiner Tiere. Dann kam es zu einer unfreiwilligen Reizkonfrontationstherapie: Mit etwa 16 Jahren holte ich eine große, eingelagerte 5 kg-Dose Tierfutter vom Dachboden. Und sie kam mir schon so merkwürdig leicht vor, dass ich mich beim Öffnen wirklich gut darüberbeugte, ja fast den Kopf hineinsteckte, um auch alles ganz genau sehen zu können, als ich die Dose öffnete. Futter war nicht mehr viel darin. Lebensmittelmotten dann auch nicht mehr, die flogen nämlich in einer dunklen Wolke in mein Gesicht, verfingen sich in meinen Haaren und saßen später in jeder Ecke meines Zimmers. In der Dosen waren nur noch ziemlich viele Larven.
Es gibt ja diese Momente im Leben, in denen man sich entscheiden muss: verliert man jetzt den Verstand oder nicht. (Jetzt nicht frech werden!). Ich ging aus dem Zimmer, schloss vorsichtig die Tür hinter mir, wusch mir die Haare und teilte meinen Eltern mit, es gäbe ein Problem. Den Rest der Motten übernahm Mama N. und den Rest der Kleintiere-in-großen-Mengen-Problematik übernahmen die Mehlwürmer etwa weitere zehn Jahre später. Seitdem könnten Sie mich insektentechnisch ruhig ins Dschungelcamp stecken, das wäre alles gar kein Problem. Ich kann mittlerweile sogar Krabben essen, wenn sie halt irgendwo mit drin sind.
Nur mit den Ameisen ist es so eine Sache. Ich habe mittlerweile Phase IV noch zweimal angeschaut (und bin beide Male dabei eingeschlafen) und Empire of the Ants gelesen. Und trotzdem: manchmal sehe ich aus dem Augenwinkel zwei, drei Ameisen die Wand neben mir hochkrabbeln. Ich weiß dann, dass sie nicht da sind. Ich weiß dann aber auch, dass es an der Zeit ist, insgesamt ein bisschen langsamer zu machen.
Heute vor zig Jahren:
Nichts besonderes.