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    Sonntag, 26. Juli 2015
    Blogging November - 1357

    Mademoiselle hatte am Freitag ihren letzten Schultag in der Grundschule und war sehr traurig, dass diese Zeit nun zu Ende ist. Von mir wollte sie wissen, wie für mich mein letzter Grundschultag war und ich stellte dabei fest: ich erinnere mich nicht.

    Und ich erinnere mich nicht nur nicht an den letzten Grundschultag, sondern auch nicht an den letzten Tag auf der weiterführenden Schule. Am vorletzen, das weiß ich noch, da habe ich mir abends im Park den Fuß umgeknickt und war in der Notaufnahme. Wie ich am nächsten Tag dann zum letzten Schultag ging - humpelnd? Krücken? - keine Ahnung! Ich weiß noch nichtmals, was für einen Abistreich wir gemacht haben. Das finde ich selbst jetzt einigermaßen skandalös.

    Es ist nicht so, dass eine Erinnerungen allgemein nicht so weit zurückreichen würden. Da ist sogar ziemlich viel. Wie wir im Kindergarten die Jungs vom Holzkrokodil vertrieben haben, nachdem sie uns sehr lang (Stunden? Tage? Wochen?) nicht dort mitspielen ließen. Wie ich zur Schulvorbereitung große Achten auf ein Blatt malen und dazu "Lirum Larum Löffelstil, wer das nicht kann, der kann nicht viel!" sagen musste, sehr schlimm langweilig war das. Wie wir ein Tastspiel spielten und mit verbundenen Augen aus einem Säckchen ausgeschnittene Pappgegenstände gezogen haben - das war eins meiner Lieblingsspiele.

    Und als ich zum ersten Mal in den Urlaub fuhr, mit 6 oder 7 - das Konzept erschloss sich mir nicht. Wie, ich kann nicht alle Kuscheltiere mitnehmen? Wozu ist das gut? Ich wollte das nicht. Dass ich Pe auf der Treppe zu unserem Klassenraum (2. Klasse) erzählte, dass mein Opa gestorben ist. Verschwunden ist allerdings die Erinnerung, wie das war, als meine Schwester wegzog, ins Ausland - da war ich ungefähr so alt, wie Mademoiselle jetzt. Das müsste ich doch noch wissen? Da wurden doch sicher auch Möbel umgestellt und solche Dinge? War ich denn nicht traurig? Sicher haben wir uns auch irgendwie emotional verabschiedet? Ich erinnere mich nicht. Ich weiß, wie sie nach einem halben Jahr zum ersten Mal wiederkam und wir uns am Bahnhof verpassten, weil sie nicht damit gerechnet hatte, abgeholt zu werden (an sich auch etwas bizarr).

    Zu all diesen Themen, die mir entfallen sind, befrage ich dann Pe, mit der ich in der Schulzeit sozusagen siamesisch verzwillingt war, und dann wird es richtig konfus, denn zwar erinnert sich sich an einiges, das ich vergessen habe, und ich mich an einiges, das sie vergessen hat, aber: das, was wir beide erinnern erinnern wir unterschiedlich. Nicht das Ereignis, die Situation, an sich, sondern die Bewertung. Wir sprechen über dieselbe Sache, ich sage, "Achja, das war auch lustig!" und sie sagt "Lustig? Bist du verrückt? Das war echt schlimm!" Oder ich sage, "Ach ja, das mussten wir auch machen, boah, da hab ich mich gelangweilt!" und sie antwortet "Neeeein, das haben wir total gern gemacht, das wollten wir doch so!" Sehr, sehr merkwürdig, es ist ja auch nicht so, als hätten wir uns damals nicht unterhalten, da sollte uns die Haltung des jeweils anderen doch aufgefallen sein. Haben wir das nicht bemerkt, oder sofort abgetan, oder mittlerweile vergessen? Oder - und das ist wahrscheinlich, aber vielleicht auch etwas beunruhigend - schaffen wir uns unsere Realität erst retrospektiv?

    Wie auch immer, ich konnte Mademoiselle mit dem letzten Grundschultag nicht mit meinen Erinnerungen behilflich sein - was hoffentlich wenigstens auf eine etwas verrenkte Art ein Trost war: Es kommt noch mehr.

    Heute wurde ich von ihr gefragt, ab welchem Alter ich in der Schule eigentlich High Heels und Make-up getragen hätte. Da weiß ich die Antwort sehr genau, nämlich: nie. Das fand sie fast noch komischer als die Sache mit dem letzten Schultag.

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