Wenn ich richtig rechne, war es jetzt mein fünftes Mal. Und ich brauche immer relativ exakt 36 Minuten. Was insofern erstaunlich ist, als ich in den ersten zwei Jahren noch regelmäßig gelaufen bin, im dritten Jahr im siebten Monat schwanger war und in den letzten zwei Jahren völlig unvorbereitet lief. Es liegt vermutlich daran, dass man sehr viel schneller nicht sein kann, außer man möchte Menschen aus dem Weg boxen. Und sehr viel langsamer kann man sich über diese Distanz vermutlich nur kriechend fortbewegen.
Nach einer halben Stunde intensivstem Gruppenkuscheln ging es dann los. Dieses Mal bin ich allein gelaufen, weil ich nicht mehr zu meinem Team durchkam. Ich war nämlich zu spät. Bzw. eigentlich war ich eine Stunde zu früh, aber das war nunmal schon zu spät und so war ich froh, mich in dieser Stunde überhaupt noch in den Rapunzelturm durchkämpfen zu können. Beim nächsten Mal lasse ich ich vorn auf das T-Shirt "tschulligenseMal" und hinten "dankeschön" drucken.
Sowieso waren wieder alle anderen Shirts viel schöner als das eigene, das nämlich in Form und Farbgebung einem einfallslosen Nachthemd glich. Was zusammen mit zu langer Laufhose, zu blauen Kontaktlinsen und zu kurzem Stummelpferdeschwänzchen dann aber auch irgendwie egal war. Und auch in diesem Aufzug blieb ich dann nicht die ganze Strecke allein, sondern wurde von netten Damen und Herren von der Kripo mitgenommen. Also beim Laufen jetzt. Inwieweit das doch an meiner "Gewandung" lag, können wir nur spekulieren - möglicherweise wollte man mich unter Beobachtung halten.
Von oben sah das Ganze jedenfalls so aus: Und das da unten sind keine Blumen, das sind Menschen.
Zählen wir die Stunden, bis der/die erste bei mir am Tisch steht, mit einem Ausdruck in der Hand und einem "Könnten wir nicht...?" auf den Lippen.
Kollegin: "Soll ich uns für Montag einen Termin machen?"
Frau N: "Naja, ich könnte, aber Du hast doch nächste Woche Urlaub."
Rufe aus dem Hintergrund: "Hallo... Montag ist Feiertag..."
Im Büro wurde Blümia wieder durch Kleenex ersetzt. Gab vermutlich zu viele Beschwerden. In bestimmten Situationen passt "Gib mir mal eben ein Blümia" tatsächlich nicht.
Geheult werden kann dann auch wieder mit Stil.
Dieser eine nervige Kollege, der sich ständig im Ton vergreift und fortwährend im Rumpelstilzchenmodus unüberlegte Befehle kläfft, scheint jeden Tag ein Stück kleiner und schmächtiger, dafür umso behaarter auf Kopf und Armen zu werden. Bald wird nur noch der übrgroße lederne Schreibtischstuhl übrig sein, auf dessen Sitzfläche man bei näherer Betrachtung einen daumennagelgroßen, felligen Wicht zeternd auf und ab hüpften sieht.
Hasta la victoria - siempre.
;-)
Also ging ich zur Büroleiterin und fragte, ob man diesen offensichtlich sinnlosen Kartenleser abschaffen könne. Die Antwort war "Nein". Ich fragte warum. Die Antwort war "Das geht Dich nichts an".
Nun ist das eine Antwort, mit der ich zwar grundsätzlich meinen Frieden gemacht habe - manchmal ist sie aber schlichtweg unzutreffend. Ich hatte dort oben irgendeine hochwichtige Tätigkeit, deren genaue Ausgestaltung mir bis zum Ende nicht klar wurde, auszuführen. Da geht mich der Grund für die Nichtabschaffung eines nutzlosen Geräts, das mich alltäglich mehrfach auf Umwege schickt, sehr wohl etwas an. Dies tat ich kund - und bekam ein Bändchen, um meine Codekarte fortan um den Hals zu tragen.
Das hatte ja nun schon einen gewissen Stil, mir so ein Bändchen auszuhändigen. In angemessener Bewunderung für diese Chuzpe hielt ich eine ganze weitere Woche still, bis ich meinen 4-Punkte-Plan zur Abschaffung des Kartenlesers aufnahm. Es handelte sich hierbei um die folgenden Phasen, die jeweils eine bis zwei Wochen andauerten.
Phase 1: Schaffen der "Awareness".
Wann immer ich nun dem Kartenleser begegnete - ob mit oder ohne Karte - sagte ich, gut vernehmlich, etwas in der Art von "Ach, der Kartenleser." Oder "Ach, gut dass ich die Karte an diesem Bändchen habe." Oder "Das ist ja echt was mit dem Kartenleser". Wann immer ich jemandem am Kartenleser begegnete, sagte ich: "Ach, der Kartenleser. Ihre oder meine?" oder "Ah, Sie haben die Karte dabei. Und ganz ohne Bändchen."
Nach einer Woche war jedem, ausnahmslos jedem, auch den wenig vergesslichen Menschen im Büro, die immer ihre Karte bei sich tragen und sie automatisch vor jedes grüne Licht halten, die Existenz des Kartenlesers ganz vorn ins Bewusstsein gerückt. Es war an der Zeit, in Phase 2 zu wechseln.
Phase 2: Infragestellung.
In dieser Phase wurden meine beiläufigen Bemerkungen zu offenen Fragen zur Existenz des Gerätes. "Warum ist hier eigentlich dieser Kartenleser?". "Wissen Sie, wozu der gut ist?". "Ach, Sie haben keine Karte dabei? Ich hab ja dieses Bändchen. Wer hat den nur hier anbringen lassen?". "Was ist eigentlich, wenn es hier mal brennt?" (Als Brandschutzbeauftragte wusste ich, dass ein ausgelöster Alarm sämtliche Kartenleser deaktiviert - übrigens interessant, wenn man mal in so einen Bürotrakt einbrechen möchte -, was aber nicht heißt, dass man das nicht mal so in den Raum fragen kann). Es entwickelten sich kurze Gespräche, kleine Scherze, Anekdoten über andere Unsinnigkeiten des Alltagslebens wurden berichtet. Mit nur ein wenig Übertreibung kann ich sagen, dass der Kartenleser beinahe die Teeküche als kommunikatives Herz des Rapunzelturmbüros ersetzte. Die Zeit war reif für Phase 3.
Phase 3: Das Zusammenziehen des Netzes.
Hier musste ich die Suppe zum Kochen bringen, also aus Einzelmeinungen eine Gesamtmeinung formen. Die Ganggespräche wechselten von offenen Fragen zur Wiedergabe des bereits (von anderen) Gesagten: "Ach, Sie haben die Karte vergessen? Da sind Sie in guter Gesellschaft. Sogar der Herr X aus Büro Y stand letztens hier und hat gefragt, wozu dieses Gerät eigentlich noch da hängt.". "Machen Sie kurz auf? Ich bin so bepackt. Für die Postleute ist es auch nicht einfach mit dem Ding." "Warten Sie, ich mach schon - elendiges Teil. Der ganze Gang hier klagt darüber." Mir wurde warm ums Herz.
Phase 4: Der goldene Moment.
Es gibt sie manchmal, diese goldenen Momente. Ich bin unsicher, ob sie schlichtweg durch eine gehörige Portion Glück bedingt sind, oder ob auch eine gewisse Bereitwilligkeit, sie aufzuspüren und von jetzt auf gleich, von null auf hundert zu nutzen, dazu gehört. Vermutlich beides.
Mein goldener Moment kam Ende Oktober. Der Chef des Rapunzelturms hatte eine sehr kleine und sehr feine Besprechung in seinem Büro. Weitere Mitarbeiter wurden nach und nach hinzugezogen. Ich wurde Hals über Kopf zum Übersetzen hineinbeordert - Karte samt Bändchen blieben auf meinem Schreibtisch zurück.
Dann die positive Entscheidung, ein überhastetes Ende des Meetings bevor es sich noch jemand anders überlegte, nichts wie raus und zum Anstoßen und an die zehn Personen in dunklen Geschäftsanzügen drängelten sich vor der Brandschutztür mit Kartenleser. "Frau N., your card...?", sagte der Chef.
Das war er, der goldene Moment.
"I apologize", sagte ich mit leeren Händen, und, seufzend, "This card-reader....". Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis all die anwesenden Mitarbeiter, randvoll mit Nach-Meetings-Adrenalin, lauthals in das Kartenleserlamento einstimmten, es in die Welt trugen, es zu einer schillernden, wirbelnden Wolke aus blitzend-überzeugenden Argumenten machten, die sich geballt auf einen einzigen Schluss richtete:
"Please have it removed", sagte der Rapunzelturmchef leise zu mir, bevor wir - zum letzten Mal - auf Umwegen quer durch das Büro beschwingt zum Ausgang gingen.
Ehm - hier pfeifts, als ob der Rapunzelturm gleich abhebt...
(edit - als ob ich gerade noch mehr Gegenwind bräuchte, chrchr *doofes Kichern*. Aber vielleicht isses ja auch Rückenwind, man wird sehen, wenn man rausgeht. Später.
Aber dann, wer weiß, wie lang das Ding noch steht, muss doch noch was geschrieben werden. Ständig diese Beinahtoderfahrungen... Auf dem Heimweg vom Sport gestern bin ich doch schon mit einem roten Laserpointer (oder so) anvisiert worden. Den ganzen Weg die Straße entlang. Einmal stehen geblieben und mich ausgiebig umgeschaut - niemanden gesehen. Laserpointer kreiste derweil auf meiner Brust herum. Was ich als Hinweis auffasste, dass mich da niemand abschießen möchte sondern sich ein Späßchen macht. Den Weg beruhigt und ohne Grübeln über letzte Worte fortgesetzt, man muss auch gönnen können...
Was ganz anderes wollte ich sagen. Ein Eingeständnis meiner manchmaligen Merkwürdigkeit. Dass ich in der Fitness-Studio-Dusche nämlich nach Einstellen der korrekten Wassertemperatur immer den Duschknopf zwecks "Bestätigung" drücken. Die Dusche geht dann aus. Trotzdem kann ich es mir seit einem halben Jahr nicht abgewöhnen. Man möchte doch perfekte Ergebnisse immer gern bestätigt wissen.
Und dass ich immer wieder in die falsche der beiden Tamponpackungen greifen, weil ich die niedrigere aufgedruckte Zahl auf der Packung mit der kleineren Größe assoziiere. "Anzahl, nicht Größe" bete ich mir jeden Monat ein paar Tage lang vor. Es nützt überhaupt nichts.
Und dass ich nur unter höchster Konzentration analoge Uhren lesen kann. Und trotzdem eine trage, muss ja nicht jeder gleich alles wissen. Intuitiv spiegele ich die beim Ablesen nämlich immer. Jetzt ist es 10 nach 12, das lese ich als 10 vor 12. 10 nach 8 wird 20 vor 2, und so weiter und sofort. Schon immer. Hirnfehler. Nicht der einzige.
Was noch? Der Turm schwankt, aber steht. Naja, vermutlich steht er, weil er schwankt. Aber das klingt so grauenhaft undramatisch. So nüchtern. Und vermutlich so wahr. Ich weiß doch auch nicht. Geschüttelt und gerührt, aber der Drink ist noch im Glas. Glaub ich. Nach ein paar verliert man ja den Überblick.
Sehen Sie mir diese Wirrungen nach, ich habe schlecht geschlafen. Wenn überhaupt..)
Wenn die neuen Bildschirme im Büroturm gegenüber so groß sind, dass ich von hier problemlos mitlesen kann.
Mail mit höchster Priorität an alle Rapunzelturmbewohner:
"...wie von uns festgestellt wurde, wird der Fahrradraum [...] derzeit von einigen Mitarbeitern als Winterquartier / Lagerstätte für Fahrräder zweckentfremdet. Dies lässt sich u.a. daran erkennen, dass sich auf den nicht durchweg genutzten Zweirädern erheblich mehr Staub abgelagert hat, als bei den dauerhaft genutzten Rädern."
Ich kann nicht genau erklären warum, aber die Mail hat mich vor Lachen unter den Tisch geschmissen. Vermutlich, weil es hier heute sonst wenig zum Lachen gibt.