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    Freitag, 29. Dezember 2006
    Eine Ausnahme

    Ich halte ja nichts davon, sich über Geschenke zu beschweren, denn geschenkt ist halt geschenkt und wenn man es nicht braucht isses auch egal denn man hat ja schließlich nichts dafür bezahlt. Und ich halte auch nichts davon, über Leute zu lästern, denn es bringt nichts, man sollte ihnen sämtliche Belange lieber direkt mitteilen oder - wenn sich der Aufwand oder der Aufstand nicht lohnt - den Mund halten. Und insbesondere halte ich es für ungeschickt, über die eigenen Eltern oder die des Partners herzuziehen, denn die einen haben einen selbst geprägt und die anderen den, den man liebt, so dass man bei dieser Sache eigentlich nur verlieren kann.

    Nun, Ausnahmen bestätigen die Regel.

    Ich bekam zu Weihnachten von einer Person, die ich nicht näher identifizieren möchte, die aber den Herrn Novemberregen, also ihren Sohn, bat, meine Wünsche herauszufinden, was dieser durch die unauffällige Frage "was soll sie dir schenken" tat, woraufhin ich eine kleine Liste an leicht erhältlichen Büchern und anderem überall verfügbaren Schnickschnack zur Auswahl zusammenstellte, - Wünsche zu produzieren fällt mir nicht schwer - einen "Hausanzug" geschenkt. Also es geht um einen Hausanzug.
    Ich glaube, es gibt verschiedene Arten von Leuten, nämlich solche, die Kleidungsstücke wie Hausanzüge und Bademäntel benötigen, und solche, die dies nicht tun. Ich gehöre zu letzteren. Wenn ich noch in Schlafkleidung bin und es an der Tür klingelt, werfe ich mir keinen Bademantel über, um zu öffnen, denn ich denke, dass ein Bademantel nicht wirklich kleidsamer ist als ein Pyjama; gleiches gilt übrigens für einen Hausanzug. Ich kann nicht im Hausanzug die Tür öffnen und Störenfriede anblaffen und ich kann nicht im Hausanzug die Tür öffnen und die Müllpolizei Hausmeisterin abfertigen.

    Kleidung ist wichtig. Über die Jahre habe ich dabei für mich einige Grundsätze gefunden, die unter anderem beinhalten dass Schlafklamotten sich nicht zu produktiver Tätigkeit eignen und dass man gut aussehen sollte, wenn man Mist baut. Ersteres ist vermutlich subjektiv, zweiteres habe ich ausführlich validiert.

    Möglicherweise trifft dieser Hausanzug bei mir auch einen wunden Punkt, das will ich nicht ausschließen. Es ist ja so, dass Kleidung auch eine Einstellung ausdrückt. Bei uns laufen alle, die am Wochenende ins Büro müssen, beispielsweise in möglichst verrotteten Freizeitklamotten herum, mich eingeschlossen. Die Aussage ist klar: Ich gehöre hier nicht hin. Möchte man dies auch eigentlich jedem gleich entgegen schreien, zieht man doch oft die nonverbale Variante vor.
    Nun kann man einen Vergleich ziehen und sich fragen, ob ich unter Umständen bereit wäre, an einem Freitagabend zu Hause einen Hausanzug zu tragen. Hm?

    Ich will keinen Hausanzug. Ich will mir meine Kleidung selbst aussuchen. Ich will keine Kleidung geschenkt bekommen. Ich sage das bei jeder Gelegenheit. Wieso habe ich kein Buch bekommen?

    Naja, möglicherweise könnte ich ihn tragen, um Tai Chi für junge Mütter zu podcasten, so wenn man nach dem Einschläferzeremoniell des Kindes über die auf dem Boden verteilten Spielzeugfragmente steigt und bei dem kleinsten Geräusch in den unglaublichsten Posen regungslos verharrt...

    Hat noch jemand ein doofes Geschenk bekommen??

    Montag, 18. Dezember 2006
    Weihnachtsgeschenk für Papa

    Disclaimer: Dieser Beitrag ist natürlich frei erfunden.

    Viele Menschen behaupten, ich wäre stur. Diese Menschen kennen meinen Vater nicht. Papa ist Westfale, durch und durch. Wenn Papa etwas will oder sagt, ist das so. In den letzten Jahren kommt noch eine Portion Altersstarrsinn hinzu.

    Gegenüber meines Heimathauses war vor vielen Jahren einmal eine Bushaltestelle. Der Bus fährt dort schon lange nicht mehr, die Haltebucht ist noch vorhanden und ruft am Fußgängerzonen-Randgebiet wie eine Oase die nach einem Parkplatz Dürstenden herbei. Kurz vor dem Einparken entpuppt sich das ganze als eine Fatamorgana - Halteverbot, absolut, dokumentiert mittels Verkehrsschild.

    Wenn ich meine Eltern besuche, stoße ich zunächst direkt auf das Haus zu, um mich sodann in Spiralbewegungen immer weiter zu entfernen, bis es mir gelingt einen Parkplatz zu ergattern. Papa erwartet mich am Fenster. Sieht er mich unter dem Gepäck schwankend auf das Haus zusteuern, kommt er mir entgegen um einen Teil der Taschen zu nehmen und zu sagen: "Warum hast Du nicht da drüben geparkt?"
    "Da ist Halteverbot, Papa", antworte ich.
    "Schon längst nicht mehr, der Bus fährt noch nicht mehr", sagt Papa. "Da kontrolliert keiner, da kannste doch parken. Die haben nur vergessen, das Schild weg zu machen. Ich hab da schon angerufen, aber die tun nix. Seit Jahren schon! Saubande. Kümmert sich keiner. Dafür zahl ich Steuern!".
    "Ich hab da aber schon zweimal ein Knöllchen bekommen", wage ich einzuwenden.
    Papa kaut auf seinem Gebiss. "Frechheit ist das. Hast du die etwa bezahlt?? Verbrecher!".

    Da unsere Familie gern Rituale pflegt, verläuft das Gespräch bei jedem Besuch in etwa gleich. Nur beim letzten Mal war ich etwas angestrengt und mißgestimmt und verließ die gewohnten Pfade.

    "Halteverbot ist da, wo das Schild steht, Papa", sagte ich, um das Gespräch abzuwürgen.
    Wie wir wissen, bestraft der liebe Gott kleine Sünden sofort. Papa blieb wie angewurzelt stehen. "Dann muss das Schild weg!" Er lief zur Haltestelle zurück um zu schauen, wie das Schild befestigt ist. "Das mach ich ab. Das muss weg". Nur mit Mühe konnte ich ihn bewegen, das Schild vorerst Schild sein zu lassen.

    An der Kaffeetafel saß Papa gedankenverloren da und kaute auf seinem Gebiss. Wenn er sprach, dann von dem Schild, und wie es zu entfernen sei. Doch gab es nach dem Kaffee Fußball und Bier, so dass die Angelegenheit vorerst in Vergessenheit geriet.

    Vorerst, denn Papa vergisst nichts, und so etwas schon gar nicht. Das Schild war Thema beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendessen (der Tagesablauf richtet sich bei uns daheim im Wesentlichen nach den Mahlzeiten - zwischendrin war das Schild jedoch auch Thema).

    Am Abend saß ich mit meiner Schwester zusammen.
    "Wie konntest Du das nur tun, ihn auf diese Idee bringen!", warf sie mir vor. "Du kennst ihn doch, der geht demnächst hin und macht das Schild weg und gibt es richtig Ärger!".
    Ich versuchte zu beschwichtigen, dass es so viel Ärger nicht gibt, wenn man sich an einem Verkehrsschild vergreift. Doch meine Schwester hatte schon weitergedacht: Papa würde das Schild niemals heimlich entfernen, da er sich ja völlig im Recht fühlt. Am hellichten Tag würde er mit Leiterchen und Akkuschrauber zu Werke gehen. Eventuell herbeigerufene Ordnungshüter würde er beleidigen (Saubande! Verbrecher!), eventuell zu zahlende Ordnungsgelder würde er verweigern, bis aufs Äußerste. Die Zukunft sieht düster aus. Und ich bin Schuld.

    "Und jetzt??", fragte ich meine ältere Schwester, die immer Rat weiß. Sie schwieg. "Wir müssen ihm zuvorkommen", sagte sie dann.

    In einer Nacht- und Nebelaktion stelle ich fest, dass es über die Jahre nicht einfacher geworden ist, Verkehrsschilder von ihrem Bestimmungsort zu entfernen. Der Vorteil des besseren Werkzeugs wird aufgehoben durch ein geringeres Maß an Kletterübung und Scheiß-Egal-Haltung. Aber Sturheit ist erblich und so ist es das Schild, das letztendlich aufgibt.

    Papa bekommt in diesem Jahr ein "Halteverbot"-Schild zu Weihnachten. Ich bekomme einen Parkplatz vor der Haustür.

    Montag, 11. Dezember 2006
    Die ersten 20cm

    Was für eine merkwürdige Idee es doch ist, an einem 11. Dezember wieder mit dem Laufen anzufangen!

    Die letzten zweieinhalb Jahre hat mich nichts, aber auch gar nichts zum Laufen getrieben. Es erschien mir absurd, jemals Spaß daran gefunden zu haben. Und dann wache ich mit diesem fixen Gedanken im Kopf auf, es juckt in den Füßen.

    So trabe ich Richtung Park. Schiefergrau ist der Himmel und es ist doch tatsächlich noch richtig schön kalt geworden. Der Weg im Park ist trotzdem vermatscht, was mich nicht stört, denn ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt - laufend - so weit komme. Fand meine letzte Laufrunde doch vor einer längeren Babypause statt. Der Matsch wäre schon fast ein Grund, doch lieber ins Schritttempo zu wechseln, hätte ich nicht genau dort, auf dem schlammigen Weg, meinen Rhythmus wieder gefunden. Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Hypnotisch.

    Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Die Gedanken fließen. Erinnerung an die Schulzeit, an endlose Strafrunden auf dem Sportplatz, immer mit der besten Freundin und immer mit Jeans und Docs. Dabei nie einen Rhythmus gefunden, schon gar nicht meinen.

    Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Erinnerung an eine Wette, einige Jahre später. Eine Runde um den Maschsee in Hannover. Das tat weh am nächsten Tag. Wette gewonnen - worum es überhaupt ging, verrät die Erinnerung nicht mehr.

    Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Erinnerung an den ersten wirklich freiwilligen Lauf, wieder einige Jahre später. Wie komisch ich mir in den Sportklamotten vorkam. Die Laufschuhe erschienen so riesenhaft. Bei jedem Entgegenkommenden hätte ich mich am liebsten in den Büschen versteckt, so blöd kam ich mir darin vor.

    Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Erinnerung an Silvesterläufe um die Obernau-Talsperre, 10 Kilometer restlos vereist, schäbige kalte Pensionszimmer, Würstchen und Tombola und mit dem Auto in die Dämmerung, nochmal quer durch Deutschland zu irgendeiner Silvesterparty, mit müden Beinen aber einem guten Gefühl.

    Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Erinnerung an Bern, selten einen Streckenabschnitt so sehr verflucht wie den Aargauer Stalden. Zelten und endlose, immer wiederkehrende Diskussionen, welcher Kilometer auf welcher Strecke der schwierigste ist Der 34. beim Marathon? Der 7. bei 10 Kilometern? Immer der dritte, wenn die Euphorie verfliegt aber die Muskeln noch nicht richtig warm sind? Immer der letzte? Bis einer die Diskussion für immer beendet mit den Worten: "Am schwierigsten sind die ersten 20 Zentimeter. Das sind die, wo man den Hintern von der Couch hebt."

    Tsapp tsapp tsapp tsapp tsapp. Die Kondition fehlt, um weiter im Rhythmus zu bleiben. Die Gedanken brechen ab. Der Rückweg ist eher zäh.

    Trotzdem, die ersten 20 Zentimeter waren die schwierigsten.

    Freitag, 1. Dezember 2006
    Weitere (Grätchen)-Fragen

    Bekanntlich gibt es ja keine dummen Fragen, also immer raus damit...

    Warum mein Blackberry in der leeren Gelomyrtolschachtel steckt, kann ich mir beinahe noch erklären - haben doch Schachtel und Holster ein nahezu identisches Format. Und ich habe ja gestern nacht kein Licht angemacht, ich glaube, um die Familie nicht zu wecken.

    Wo die Gelomyrtolkapseln sind? Äh. Nicht im Blackberry-Holster jedenfalls...

    Aber wie kommt ein hartgekochtes Ei in meine Jackentasche?? Übrigens, wenn man ahnungslos in ein hartgekochtes Ei mit zerbrochener Schale in einer Jackentasche greift, fühlt es sich so an, als habe man ein kleines Vögelchen umfasst und ihm sämtliche Knochen gebrochen. Glaube ich - habe ich natürlich noch nie getan, das mit dem Vögelchen.

    Und eine letzte Frage noch. Die wird wohl auch ungeklärt bleiben. Wieso werden zwei paar Kindersöckchen mit acht (8!!!) Metallklammern und vier von diesen Plastikdingern zusammengelinkt? Falls hier zufällig jemand aus der Kindersöckchenverpackngsindustrie lesen sollte - ich glaube nicht, dass das der Fall ist, aber man weiß ja nie, schließlich lesen hier auch täglich Menschen nach, die die Antwort auf die Frage "was soll ich kochen?" suchen. Nebenbei bemerkt und als kleine Anregung an diese Damen und Herren - ich beziehe eine Gemüsekiste, da kocht man das, was gerade drin ist. Aber zurück zu den Socken: Über die Kombination Metallklammern und Kleinkinder muss ich gar nicht sagen, stimmt's? Und die Plastikdinger sehen doch aus wie Gräten, oder? Genau. Und so wirken sie auch, wenn ein Kind sie verschluckt. Eltern möchten sowas nicht im Haus haben. Und wie jeder weiß, pflegt die eine Hälfte dieser Plastikgräten auch stets durch die halbe Wohnung zu springen, wenn man die Socken wüst auseinanderrreißt das Plastikstück sorgfältig durchschneidet. Keine Mutter rutscht gern auf Knieen über den schmutzigen Fußboden, um die fehlende Hälfte vor den oralen Gelüsten des Nachwuchses zu sichern. Und schon gar keine Mutter, die am Vorabend arg feiern war und dennoch um 7 Uhr morgens aufgestanden ist. Offen gesagt, das Geräusch von Sockenplastikgräten auf Parkett führt bei uns feiergeschädigten Müttern zu akutem Kontrollverlust. Merken Sie sich das bitte! Eine einfache Papierbanderole wäre möglicherweise eine Alternative. Vielen Dank.

    Montag, 27. November 2006
    Nicht wunschlos

    "Ich möchte noch ein bisschen raus" seile ich mich vom Familienkaffee, zu dem ich hinterrücks eingeladen befohlen wurde, ab. Die Schwiegermutter und die angeheirateten Tanten schauen ein wenig pikiert, ist es doch so schön kuschelig warm drinnen und draußen wird es schon dunkel, und wir sitzen doch hier so nett. Schließlich werde ich mit dem Auftrag, mir doch noch ein hübsches Geburtstagsgeschenk zu kaufen, entlassen.

    Obwohl erst Spätnachmittag ist draußen schon schwarze Nacht, nur oben am Himmel eine blasse Mondsichel. Ich schlendere eine Weile durch das Viertel und schaue durch die erleuchteten Fenster der schönen Altbauwohnungen, vielleicht finde ich ja ein paar Anregungen für Stuck, Lampen und Vorhänge. Schade, dass kein Schnee liegt, aber das Laub aufwirbeln macht auch Spaß.

    Dann erklingt Musik, die mich wie eine Faust in den Magen trifft. Ich bleibe stehen und starre ins Dunkle. Eine halbe Straße weiter steht ein dicker Mann mit Einkaufswägelchen und singt russische Lieder, aus dem Wägelchen ertönt Begleitmusik. Ich verstehe kein Wort aber ich kann nicht weitergehen und es ist anstrengend, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen.

    Nach einiger Zeit kann ich mich genug sammeln, um mein Münzgeld aus der Tasche zu kramen und es dem Mann mit seinem Wägelchen in die Mütze zu werfen. Der Sänger, ein älterer bauchiger Herr, küsst mir die Hand und murmelt etwas auf Russisch, von dem ich nur das Wort "spasibo" verstehe. Artig fließt in meinem Kopf die Floskel "nje sa schto" aus tiefen Hirnwindungen direkt in den Mund und wird artikuliert. Das Gesicht des Sängers erhellt sich, er nimmt meine Hand zwischen seine und spricht auf mich ein. Ich verstehe nur jedes fünfte Wort, genieße aber den Klang der Sprache. Ich glaube, das Wort "Kakao" zu hören und bemerke, dass ich bereits in das gegenüberliegende Cafe geschoben werde. Ich radebreche etwas von "ja nje ponjala" und "njemnoga russki", aber da sitzen wir schon beim Kakao und er spricht und spricht und spricht. Ich versuche gar nicht mehr, zu verstehen sondern lausche der Sprache wie Musik. Etwa eine halbe Stunde später verabschiedet sich der Sänger mit einer kräftigen Umarmung von mir.

    Ich befinde, dass ich nun wieder über genügend Contenance für eine Fortsetzung des erzwungenen Familienkaffees verfüge und mache mich auf den Rückweg in die unglaubliche Enge einer weitläufigen Wohnung. Ohne einen handfesten Nutzen in Form gekaufter Ware für meinen Ausflug vorweisen zu können werde ich gefragt, was ich bloß die ganze Zeit getan habe. Meine Auskunft, ich hätte mit einem russischen Straßenmusikanten Kakao getrunken wird kurz als offensichtlicher Scherz belacht und dann beiseite gelegt für die wirklich wichtige Frage, was ich mir denn nun zum Geburtstag wünsche. Nichts, was ihr mir geben könntet, lautet meine wahrheitsgemäße Antwort.

    Dienstag, 14. November 2006
    Alles muss raus

    "Böse, böse Menschen" murmele ich vor mich hin, während ich auf dem U-Bahnsteig stehe. Eigentlich murmelte das jemand anders, in meinem Kopf, an den ich gerade dachte und ihn in einer bestimmten Situation sah, so dass es irgendwie passte. Tatsächlich kamen die Worte aber aus meinem Mund und die Situation passte ganz und gar nicht. Die Frau neben mir sah mich aus dem Augenwinkel an und schob sich etwas weiter von mir weg. Meine Güte, wieso stehe ich hier und murmele? Die Situation ist so absurd, dass ich laut lachen muss. Die Frau geht ans andere Ende des Bahnsteigs. Jetzt hilft nur noch die Flucht nach vorn. Das Schild an der Rolltreppe hat mich schon immer gestört. "Die Fahrtreppe ist kein Spielplatz für Kinder. Turnen auf den Handläufen verboten" lese ich laut und kommentiere "jaaaa, da seh ich gleich eine Tante Bernhardine vor mir, die mit straff auf dem Atombusen sitzendem jadegrünen Polyesterfeinstrickpulli ihren dicken Finger ausstreckt und mit einem "ts" in der Stimme 'die Fahrtreppe ist kein Spielplatz, Kinder" tadelt. Überhaupt, Fahrtreppe. Und Turnen! Ich bitte Sie!!" Dann vertiefe ich mich in die Zeitschrift "Eltern", die ich für Momente, in denen ich Urlaub von mir brauche, bei mir führe. In der neuesten Ausgabe steht, dass man keinesfalls Parfüm, Pralinen, Socken oder Schwerter zu Weihnachtenverschenken sollte. Das ist einfallslos. Darüber ärgere ich mich, dann ich habe mir Parfüm, Pralinen und Socken gewünscht. Ein Schwert brauche ich tatsächlich nicht, wobei ich "einfallslos" in diesem Zusammenhang nicht für den idealen Ausdruck halte. Auch den gestrickten Fläschchenwärmer für 15, 90 Euro brauche ich nicht, den dasselbe Magazin einige Seiten später als geeignetes Weihnachtsgeschenk anpreist. Ich hätte dann aber doch lieber die Pralinen.

    Bei Geschenken fällt mir dann auch noch etwas ein, das raus muss. Das bislang xxx (hier darf jeder einen passenden Superlativ einsetzen, mir fällt keiner ein) Geschenk des Jahres 2006 war eine Plastiktasche mit Abbildung zweier Engel, die meine Schwiegermutter mir vor einigen Wochen lächelnd überreichte. Ich bin nicht so der Engel-Typ. Ob ich ein Plastiktaschen-Typ bin, möchte ich jetzt nicht ad hoc entscheiden. Jedenfalls findet sich bei mir ansonsten kein Gebrauchsgegenstand, auf dem Engel abgebildet wären. Halt, falsch, ich besitze eine Tasse mit Engeln. Die hat mir aber auch die Schwiegermutter geschenkt. Gerade kommt mir in den Sinn, ob die Gabe von Engelsabbildungen möglicherweise einem bestimmten Zweck dienen soll. Bis vor kurzem, ungefähr bis vor 2,5 Jahren, erhielt ich nämlich meist gerahmte Bildchen von Babys und Kleinkindern von meiner Schwiegermutter. Interessanterweise wird mir heute zur Last gelegt, in nur unzureichendem Maße selbst gerahmte Bilder von Babys und Kleinkindern zu verteilen. Ein bisschen wie früher der Heiligenbildchentausch nach dem Kommunionsunterricht. Womit wir fast wieder bei den Engeln sind.

    Raus muss manchmal auch Ärger. Ich habe heute eine Hälfte einer Flügeltür kaputt geknallt. Das ist nicht schön.

    Ich stelle fest, dass es mir zunehmend schwerer fällt, mit Idioten zurecht zu kommen. Das bezieht sich jetzt nicht auf die Flügeltür, sondern auf... - lassen wir das. Für den Advent nehme ich mir vor, mich in der Tugend der Güte zu üben. Das meine ich ernst. Bis dahin sind es aber noch 18 Tage oder so...

    Samstag, 11. November 2006
    "Ich kann nicht kochen"

    "Ich kann nicht kochen" ist einer der albernsten Sätze der Welt, und er begegnet mir leider ständig. Könnte mir ja egal sein, ist es aber nicht, denn er wird meist mit einer Koketterie vorgetragen, die zu implizieren scheint, dass am Kochen irgendwas ehrenrühriges ist, Heimchen-am-Herd Klischee oder Biolek-Geschlürfe und -Gelaber oder was weiß ich, jedenfalls hat kann der moderne hippe Mensch von heute nicht kochen, wozu auch, ist ja genug Geld da um Essen zu gehen oder was Kommen zu lassen, kochen ist uncool.

    An dieser Stelle mag sich erstmal jeder beliebige Gründe denken, warum ich mich darüber so ereifern kann, könnte mir ja eigentlich egal sein, ist es aber nicht. Man mag Vermutungen anstellen über geringes Selbstbewusstsein oder die Angst, in genau jenes Klischee zu fallen, oder der Wunsch, mir ein eigenes zu schaffen zwecks besserer Ordnung der Welt, oder mir ist der letzte Auflauf angebrannt oder was auch immer, ist aber alles nicht der Fall, ist auch egal, ich reg mich auch wann ich will und darum geht es hier auch nicht, es geht um die, die "nicht kochen können", so, das wäre geklärt.

    Heute war eine Freundin bei mir, die immer viel zu tun hat, viel unterwegs ist, und da gerade Mittagszeit war schaute man mal in die Gemüsekiste und beschloss, den dort aufzufindenden Kürbis zu Suppe zu verarbeiten, während wir in der Küche bei einem Gläschen Wein weiterschwatzten und ich halt nebenher den Kürbis zerstückelte und die Zwiebelchen in etwas Butter anschwitzte und ein paar Kartoffeln Rosara schälte und würfelte (das ist eine Allround-Kartoffel mit hübscher rötlicher Schale, aber das muss man nicht wissen, um zu kochen, hauptsache man erkennt eine Kartoffel an sich und das gelingt, meine ich, sogar noch den meisten Assistant Key Account Managern in pleitelnden Internetagenturen, ansonsten macht man halt Nudeln oder Reis). Da sagte meine Freundin mitten im Gespräch, das sich gar nicht ums Kochen drehte "Ach wie du das machst, so mit dem Kürbis und den Kartoffeln.. ich kann ja gar nicht kochen" und blickte leicht lächelnd aus dem Fenster. "Magst du keinen Kürbis?" fragte ich und ihre Antwort war: "Der ist doch gerade wieder ziemlich in", worauf ich den Kürbis in den Topf schmiss, mich umdrehte und sagte, "es ist absoluter Schwachsinn zu sagen, dass du nicht kochen kannst - sag von mir aus, dass du Kochen blöd findest, dass Du keine Lust hast, zu kochen, aber sag nicht dass du nicht kochen kannst". Während die Kartoffeln im Topf verschwanden bemerkte sie leicht alarmiert, das mit dem Kochen, das könnte sie wirklich nicht, ihr würde sogar das Teewasser anbrennen, haha.

    "HAHA!" wiederholte ich. Und als ich dann da stand und mit dem Suppenlöffel, von dem Gemüsebrühe aufs Parkett tropfte, auf sie deutete und erwiderte, sie solle können und wollen nicht verwechseln, sonst würde sie sich für immer selbst im Weg
    stehen, kam ich mir plötzlich vor wie mein ehemaliger Russisch-Lehrer, der sich bis fast zum Herzinfarkt echauffierte, wenn wir jemandem vorsagten, mehr als über irgendetwas anderes, und uns dann im Zustand höchster Erregung vorwarf, dem Kommilitonen die Möglichkeit zu nehmen, eigene Fehler, eigene Erfahrungen zu machen, dass wir ein Stück Leben stehlen durch unsere Bevormundung. Ich fand den Mann damals äußerst wunderlich, hatte er doch einen Doppelnamen (als Mann, na sowas!), trug merkwürdige Kleidung, forderte uns ständig zum Demonstrieren auf - kurz gesagt ein alter 68er, der mich eines Nachmittags in sein Büro bat und mich zunächst wirklich zur Schnecke machte und dann sehr sentimental wurde, denn normalerweise schrieb ich immer sprachlich experimentelle Klausuren, die dann auch die entsprechende Fehlerzahl aufwiesen, wenn sie auch formell kreativ waren, so dass ich, als es aufs Abitur zuging, beschloss, es einfach mal ganz einfach zu versuchen, mit einer Klausur die nur aus 3-, maximal 4-Wortsätzen bestand (was man diesem Satz hier beileibe nicht vorwerfen kann, zählen Sie mal nach!), so dass sie tatsächlich sprachlich fehlerfrei war, dafür aber auch einfach nur beschissen zu lesen, und diese Vorgehensweise - wenn auch an sich wenig angreifbar im Notensystem - widerstrebte dem Altachtensechziger mit dem Doppelnamen derart, dass er eine Bewertung verweigerte und mich aufforderte, die Klausur nachzuschreiben, und zwar anders, denn so etwas würde er nicht bewerten, das wäre ein Verbrechen an der Sprache und an meinen Fähigkeiten, er würde sich nicht zum Mittäter dabei machen, selbst wenn es ihn seine Stelle koste. Sehr dramatisch. Sehr absurd. Absolut unbegreiflich für mich zum damaligen Zeitpunkt, aber in dem Moment, als mir die Brühe aufs Parkett tropfte und die Frau, die kein Wasser kochen kann - WILL - vor mir stand, fand ich seine Logik plötzlich schlüssig und begann, ihn zu vermissen.

    "Sag, dass du nicht kochen willst" stieß ich hervor und fuchtelte mit dem Löffel. "Nee, nee, das ist es nicht", wandte sie - die Lage völlig verschätzend - ein. "Das Wollen ist nicht das Thema, ich krieg das einfach nicht so hin, ich weiß nie, wieviel und welche Gewürze...". "Kannst du lesen?" knallte ich ihr ein Kochbuch vor die Nase. "Kannst Du schmecken?" schob ich ihr einen Löffel mit - zugegebenerweise noch recht heißer - Suppe in den Mund. "Schmeckt das oder fehlt hier was?". "Ich weiß nicht, ist ganz gut...ich weiß nicht wie Kürbis schmecken soll" sagte sie. "Ist völlig egal, hier soll überhaupt nichts, hauptsache dir schmeckt es, also ist es gut oder nicht?" "Ja" "Gut, dann lassen wir sie jetzt noch ziehen - kannst du spülen?" "Ja sicher kann ich spülen...."

    Während sie spülte und ich meinen Wein weitertrank, dachte ich noch ein bisschen über den Unterschied zwischen Können und Wollen nach und legte eine Gedenkminute für meinen alten Russischlehrer ein.

    "Manchmal bist du merkwürdig, da mache ich mir fast ein wenig Sorgen um deinen Geisteszustand" sagte sie, als wir am Tisch saßen und die Suppe aßen. "Ach was" sagte ich. Ich auch, fügte ich in Gedanken hinzu.

    Sonntag, 29. Oktober 2006
    Systemausfall

    Wenn man eines morgens aufwacht und ohne ersichtlichen Grund an der rechten Hand einen auf das Dreifache der normalen Größe (schmerzhaft) angeschwollenen Mittelfinger entdeckt, so ist das an sich schon ärgerlich. Am selben Tag noch aufgrund vermehrter Amalgambrösel im Mund einen dringenden Zahnarzttermin wahrzunehmen und von dort mit drei nachhaltig betäubten Mundquadranten zurückzukehren, ist dann schon zu gar nichts mehr gut, wohingegen man den Finger ja zumindest dazu gebrauchen kann, der Welt die eigene Haltung zum Tagesverlauf in besonders expressiver Gestik zu signalisieren. Kommen dann noch weitere kleine Ärgernisse hinzu, so ist man geneigt, diese am Abend in Vergessen zu ertränken - was jedoch durch die bereits erwähnte Gesichtsstarre auch nur unzureichend gelingt, aber doch genau in dem Maße, dass zwar die gewünschte trunkene Leichtigkeit ausbleibt, die Schwere des Kopfes am nächsten morgen jedoch gewährleistet ist. Gut für die Gestik, dass der Finger noch nicht abgeschwollen ist, denkt man sich und möchte fast lachen, hätte sich nicht über Nacht eins der Provisorien im Mund verabschiedet so dass es Klappe halten heißt. In den folgenden Schlaf mischen sich Alpträume von in Zukunft nur noch 9fingrigem Tastentippen, die sich als Fieberträume aufgrund der fortschreitenden Infektion am Finger erklären lassen.

    Beim nächsten Erwachen hat der Voodoo-Meister sich wohl ein anderes Opfer gesucht, denn der Körper befindet sich wieder weitestgehend in Normalzustand. Der kinderfreie Samstag wird genutzt, ein achtarmiges Leuchtermonstrum zwecks Restauration zum Fachmann für Elektroarbeiten des Vertrauens zu transportieren. Dass die Firma in den Betriebsräumen just an diesem Tag ihr 60. Firmenjubiläum mit reichlich Speis und Trank feiert, ist nach Schilderung der vergangenen Tage (und der Kenntnisnahme des Kostenvoranschlags für die Restauration) eine hinlängliche Erklärung für den folgenden zunächst harmlosen Frühschoppen auf dem Betriebsgelände, der nach einer alkoholischen Verbrüderungsaktion mit den Söhnen des Inhaberehepaares zum späten Nachmittag in einer Karaoke-Darbietung auf vier eilends zur Bühne zusammengeschobenen Waschmaschinen gipfelte.

    Heute morgen dann die Erkenntnis, dass mir trotz Zeitumstellung mindestens drei Stunden fehlen. Und einen Teil des Ganzen habe ich auch nur geträumt. Ganz bestimmt.

    Freitag, 20. Oktober 2006
    Flashback

    Als ich in den Aufzug trete steht er mir plötzlich gegenüber. In einem grauen Geschäftsanzug, das Gesicht leicht gebräunt, kurze helle Haare. So viel weniger imposant als ich ihn in Erinnerung hatte.

    In meiner Erinnerung leuchtet eine Neonröhre aus dem Parkhaus mit der Tankstelle unten drin auf sein Gesicht. Der Tankwart nannte mich aus unerfindlichen Gründen "Röschen" und jedes Mal, wenn ich mit irgendwelche Gestalten dort auflief, sagte er "Ach Röschen, was machst Du denn für Sachen" und jjedes Mal wenn ich eine Faxe-Dose kaufte sagte er "Ach Röschen, das ist doch nichts für Dich" und eines nachts sagte er, als er mich reinließ, obwohl eigentlich nur noch der Nachtschalter geöffnet war, "Röschen, wenn Du Dich mal richtig wehren musst bei einem dieser Kerle, dann schlag ihm auf die Nase, aber ziel nicht auf die Nase sondern auf einem Punkt hinter seinem Kopf, als ob Du ihm durch den Kopf durchschlagen würdest, nur dann sitzt genug Kraft dahinter" und ich verbuchte das unter "absurde Ratschläge die keiner braucht".

    Auf dem kleinen Mäuerchen vor der Tankstelle hat der, der jetzt den schnieken Anzug trägt, mir mal kumpanenhaft auf den Rücken geschlagen und ich bin gleich runtergestürzt, "Schrank" nannten wir ihn und er konnte seine Kraft nie so recht einschätzen und gut, Schlagseite hatte ich sowieso schon. Die Hand hat mir der Tankwart verbunden, kleine Narben an den Knöcheln bleiben bis heute.

    Den im Anzug schaue ich mir jetzt genau an, um zu sehen, ob er vielleicht auch Narben hat, von der Faxe-Dose, die ich ihm ins Gesicht geknallt habe, so als ob ich sie ihm durch den Kopf durch schlagen wollte.

    Den armen Deppen, auf den sie losgegangen waren, weil er die falsche Jacke trug, nachts in einem Parkhaus mit Tankstelle unten drin, zerrte ich vom Boden hoch und schubste ihn in den Aufzug, weg war er. Der Schrank stand da mit offenem Mund und das Blut tropfte ihm von der Nase. Nach einigen Sekunden fokussierte sein Blick und mir kam der Gedanke, ich hätte auch in den Aufzug steigen sollen. So folgte der Faxe-Dose eine Ladung Tränengas und dann bin ich schneller gerannt als ich es je für möglich gehalten hätte.

    Manchmal frage ich mich, ob es gut ist, dass wir die Möglichkeit haben, nochmal von vorn anzufangen, dass es so gut wie überall eine 2. Chance gibt, dass wir einfach woanders hingehen und jemand anders sein können, Vergangenheit gestrichen. Manchmal würde ich lieber in einem kleinen abgeschotteten Dorf leben, in dem nach Generationen jeder noch weiß was wer wann gemacht hat und nichts vergessen und nichts verziehen und nichts vergeben wird. Wo man weiß, wer wer ist. Wo man keinem sympatischen, gepflegten Mann im Anzug gegenübersteht dem man gar nicht ansieht, dass er noch weiter tritt wenn der andere schon am Boden liegt.

    Ich sehe keine Narben, aber nach dem ersten, kurzen, entsetzten Blick zu mir klammert er sich visuell an seinem Gesprächspartner fest. Er hat Schweißperlen auf der Stirn und sie beginnen schon, ihm über die Schläfen zu laufen. Ein bisschen blaß um die Nase ist er auch. Es gibt Narben, die sieht man von außen nicht. Der Gedanke tröstet mich ein bisschen.

    Sonntag, 1. Oktober 2006
    SMS

    Es war an einem Tag wie diesem. Das Datum weiß ich nicht mehr, aber es müsste Ende September oder Anfang Oktober gewesen sein, vor etwa zehn Jahren.

    Es war an einem Tag wie diesem, noch warm aber schon kühl unter der Wärme. Mit einem Vorgeschmack von Herbst, trockenen Blättern, Kaminrauch und Abendkälte. Keine Grillfeuer mehr und die Sonne stand beim Nachmittagskaffee schon recht tief.

    Es war an einem Tag wie diesem, dass ich beschloss, die Liebe meines Lebens nicht mehr zu lieben. Wenn es auch keine freie Entscheidung war sondern imperativ im Sinne des Selbstschutzes, so war es doch eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. Ich habe sie später manchmal bedauert, aber nie bereut.

    Aber - wie ähnlich man dann nach all den Jahren aber immer noch tickt. Kurz nachdem mir heute beim Nachmittagskaffee diese Gedanken kamen, piepste das Handy: "Ich vermisse Dich".

    Es sind Tage wie dieser, an dem ich meine Entscheidung bedauere. Aber nie bereue.

    November seit 6821 Tagen

    Letzter Regen: 20. November 2024, 21:47 Uhr