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    Freitag, 8. September 2006
    Zahltag

    Bald ist Weihnachten. Referat erledigt, Hausarbeiten stehen noch nicht an, Job hat auch Pause.

    Nach dem Seminar noch zu ihr. Auf dem Deich halten wir an, um zu sehen, wie die Sonne blass hinter den kahlen Zweigen verschwindet. Es riecht nach Schnee.

    Einen Schluck Glühwein, gerne. Entspannung macht sich breit. Alle Romanistenzimmer, die ich kenne, haben generische Komponenten... Mal die Bücher im Regal anschauen.

    Oh, es hat richtig angefangen, zu schneien. Ganz dicke Flocken. Schön. Aber so hell.

    Leichte Unschärfe im Blick. Die Haarsträhne im Gesicht nervt. Der Schein der Schreibtischlampe wird greller. Ich spüre meine Haarwurzeln.

    Tut mir leid, ich muss gehen. Kopfschmerzen. In fünf Minuten fährt ein Bus, ich lasse das Rad hier stehen. Nein, ich will mich nicht hier hinlegen, nach Hause. Kein Kaffee, nein. Aspirin gern, für den Weg. Nichts wie raus.

    Ist ja nur um die Ecke und dann die Straße runter. Die kalte Luft wie ein Schlag ins Gesicht. Autoscheinwerfer blenden mich, ich sehe nichts mehr, verliere die Orientierung, um welche Ecke...? Das da vorn könnte die Hauptstraße sein, blinzelnd geht es weiter. Das war wohl der Bus. Der nächste kommt in 60 Minuten, bis dahin bin ich Gemüse. Also zurück.

    Zurück, wo ist das? Schnee, Schnee, Schnee. Und so hell. Alles so gleich. Telefonzelle. Auch gut. Geld rein, irgendwas. Nummer. Konzentrieren. Kann die Zahlen nicht lesen. Wie lang stehe ich schon hier? Ruhig atmen. Endlich.

    Kannst Du mich abholen?
    - Was ist los?
    Kopfschmerzen
    - Wo bist Du?
    Weiß nicht. Ich war bei... ich wollte zum Bus. Der ist weggefahren. Es schneit.
    - Bleib wo Du bist. Wir kommen.

    Die Anstrengung, sinnvolle Sätze zu formulieren dreht mir den Magen um. Raus aus der Telefonzelle. Bleib wo Du bist. Ich kann nicht mehr. Schnee kühlt den Kopf.

    Am nächsten morgen wache ich sehr früh mit einem Riesenhunger auf und mache einen Spaziergang durch den Neuschnee. Reboot. Ich fühle mich so gut wie seit langem nicht mehr.


    Lieber Kopf, ich weiß, dass wir eine Rechnung offen haben. Aber gibt mir noch 48 Stunden. Bitte.

    Donnerstag, 31. August 2006
    Plan B

    Ich war noch keine 16 als ich mich spontan mit Zug - Zug - Schiff - Zug - Überlandbus über rund 1500 km schwang. Von den 36 Stunden non-stop-Reise erinnere ich mich nur an ein vages Gefühl von Adrenalin, Fremdheit und völliger Erschöpfung. Am Zielort erwartete mich (Pubertierende sind ein Stück weit vorhersehbar) ein gedeckter Frühstückstisch mit einem Strauß Osterglocken aus dem Park geklaut. Der Tisch stand vor einem Fenster mit pychedelisch gemusterten orangefarbenen Vorhängen und die Sonne schien.

    Dieses Bild ist in mein Gedächtnis gebrannt, und wenn ich an irgendeinem Ort dieser Welt grüne Äpfel, Lavendel und schwarzen Tee zugleich rieche sitze ich vor einem orangenen Vohang mit psychedelischem Muster, esse ein weichgekochtes Ei und meine Augen tränen weil ich müde bin und mir die Sonne ins Gesicht scheint oder wegen der Osterglocken, natürlich.

    Ich blieb für sechs Wochen und es war, als wäre ich immer dort gewesen, ich war zu Hause. In einem Leben voller Idealismus und Engagement und der Verwirklichung von Träumen. In einem Leben, das nicht mir gehörte, und dem ich immer 10 Jahre hinterherhinkte. Deshalb ging ich zurück. Und weil ich keine Kopie von einem Meisterwerk wollte, ging ich für mich einen komplett anderen Weg.

    An manchen Tagen, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel zwischen den Wolken scheint, wenn der Wind Kamingeruch in kalter Luft vorbeiträgt oder wenn der Regen ganz besonders weich ist, fühle ich den Sog. Ich weiß dann, dass es nur ein an die Oberfläche gelassener Gedanke wäre, eine kleine Drehung aus dem Gleichgewicht, einige wenige Schritte zum Bahnhof.

    Das ist mein doppelter Boden.

    Nach 1500 km würde ich Osterglocken im Park klauen und mir im Second Hand Shop orangene Vorhänge kaufen.

    Freitag, 18. August 2006
    Schaf im Kopf

    An manchen Tagen stimmt nichts.

    Habe das Gefühl, nicht richtig zu hören. Dünne Handschuhe zu tragen, die mich nicht richtig lassen. Vielleicht auch zu dicke Socken. Sicht ist komisch - sitzt die Brille schief? Die Haare fliegen. Das Gesicht fühlt sich an als hätte ich neben der aufgedrehten Heizung einen zu langen Mittagsschlaf gemacht. Jegliches Essen schlägt mir auf den Magen. Jetzt wäre mir nach einem schönen Wein, aber an solchen Tagen verläuft die Grenze zwischen "einem Gläschen" und "huch das Bett dreht sich" nicht an den mir bekannten Koordinaten.

    Ich verhaspele mich beim Sprechen. Beim Tippen sowieso. Stolpere. Hat jemand mein Gehirn 'runtergetaktet??

    Lass mich heut nacht in der Gitarre schlafen...

    Montag, 7. August 2006
    Warum ich keine schönen Fingernägel habe

    Es gibt Blicke, die vergisst man nicht.

    Mit einer meiner WG-Mitbewohnerinnen und Freundin saß ich morgens am Frühstückstisch. Seit einiger Zeit nahmen wir beide diese komischen Hefetabletten, die es in jeder Drogerie gab, denn angeblich sorgen die für makellose Haut, tolle Haare und schöne Fingernägel. Das hatten wir nun aber für eine Woche vergessen, weil so viel los war, und dachten uns daher, im Sinne der Schönheit gleich die Ration für einen ganzen Tag zu schlucken.
    Also frisch aus der Pappschachtel jeder etwa 15 von den Dingern in die Hand geschüttet und geschluckt, mit dem letzten Rest kaltem Morgenkaffee.

    Sachen gepackt, wie immer schon spät dran, und noch den Fahrradschlüssel vom Tisch gelangt. Dabei stieß sie die Pappschachtel um. Die Hefetabletten rollten auf de Tisch, und dazwischen rollte es und wuselte dann und krabbelte und wand sich. Mehlwürmer, Maden, keine Ahnung was. Viele. Tausende. Überall.

    Ich stand auf der einen Seite vom Tisch, sie auf der anderen. Der Fahrradschlüssel fiel unbeachtet in das Gewürm.

    Wir sahen uns an. "Sag an" las ich in ihrem Blick. "Wenn Du schreist, schreie ich auch, und ich höre so schnell nicht mehr auf". Meiner sagte vermutlich so etwas wie "Schrei bitte, dann kann ich mich fallen lassen und wir brüllen hysterisch bis der Arzt kommt". Der Blickkontakt war unendlich lang. Kein Wort wurde gesprochen.

    Ich hob den Fahrradschlüssel aus dem Madenhaufen. Sie nahm die Tequilaflasche vom Regal. Sie trank einen Schluck. Ich gab ihr den Schlüssel, sie gab mir die Flasche. Ich trank einen Schluck.

    Wir fegten die Maden in den Müll und taten, als wäre nichts gewesen. Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Nur Hefetabletten haben wir keine mehr genommen.


    Aber als ich heute herzhaft in einen Apfel biss, in dessen Inneren sich ein Fruchtfliegennest (oder wie auch immer man Bauten nennt, in denen diese Viecher in den verschiedensten Entwicklungsstadien vorkommen) befand, stand ich zwar allein in der Küche, aber mir war, als würde ich von der anderen Seite des Tisches genau in ihre Augen sehen.

    Dienstag, 1. August 2006
    Bin ich ein Kollateralschaden?

    Ich streiche öfters mal Leute aus meinem Adressbuch. Nicht, weil ich verärgert über sie wäre. Sondern weil ich nichts von Karteileichen halte. Ich trenne mich gern trenne von Dingen, die ich nicht brauche. Und Personen mit denen mich nichts verbindet und für die ich über längere Zeit keine Zeit gefunden habe, brauche ich offensichtlich nicht.

    Nun sind mir allerdings zwei Personen aus meinem Leben abhanden gekommen, dich ich gar nicht gestrichen habe. Und eigentlich auch gar nicht streichen will. Weil uns in meinen Augen noch sehr viel verbindet.

    Mit dem einen bin ich zur Schule gegangen und wir waren damals nie miteinander befreundet, hatten aber dieselben Freunde, so dass wir uns trotzdem oft begegnet sind. Nach dem Grundstudium hatten wir mit vielen Leuten eine zweimonatige Rucksacktour durch die USA geplant: Wie es so ist kam bei dem einen dies und bei dem anderen jenes dazwischen, so dass letztendlich nur noch er, ich und ein quasi-verhandschelltes Neupärchen übrig blieben. So teilten wir also die Hotelzimmer und hingen zusammen ab, wenn die anderen mit Pärchenaktivitäten beschäftigt waren. Von Ausrauben bis Zollfahndung haben wir dabei so ziemlich alles erlebt und letztendlich entstand daraus eine Freundschaft. Durch den einen oder anderen Umzug in den folgenden Jahren wurde der Kontakt zwar unregelmäßig wurde, aber er brach nie ab und wir konnten bei jeder Begegnung wieder so reden, als hätten wir uns gerade am Vortag noch gesehen.

    Vor drei Jahren dann aber plötzlich absolute Funkstille. Keine Antwort auf gar nichts mehr. Nach einem Jahr dann ein Anruf kurz vor einem Geburtstag: er wollte sich mal melden, lange nix gehört, ob es eine Feier gibt - ja, er kommt auf jeden Fall, freut sich schon, wird ja höchste Zeit, dass wir uns sehen.

    Das war das letzte Mal, dass ich von ihm gehört habe.

    Ein möglicher Erklärungsversuch - vielleicht ist er ja tatsächlich gekommen und hat in dem Lokal dann statt der üblichen Verdächtigen nun drei Pärchen da sitzen gesehen, die jeweiligen Frauen mit 7-9 Monatsbäuchen. Das mag abschreckend wirken. Aber ob das derart traumatisiert, dass man nach zwei Jahren noch sprachlos ist? Unwahrscheinlich.

    Mit der verschollenen Nr. 2 ist es fast noch seltsamer. Wir lernten uns mit 16 in Frankreich kennen und es hat immer zwischen uns geknistert. Geklappt hat es nie, denn immer war gerade er oder ich schon vergeben oder auch mal gerade beide. Oder auch mal gerade beide nicht, aber dann waren wir mit Wunden lecken beschäftigt. Durch Schule und Studium haben wir uns nicht aus den Augen verloren und uns geographisch immer mehr angenähert. Vor zwei Jahren dann der Anruf: "Du, ich wohne jetzt nur noch drei Straßen von Dir". Am nächsten Wochenende gleich zusammen in den Biergarten gegangen, jeder hat noch ein paar Freunde mitgebracht, irre Spaß gehabt und beschlossen, das jetzt ganz oft zu tun.

    Das war's. Nie wieder etwas gehört, keine Antwort auf Kontaktversuche, ein paar Mal geklingelt und nie einer da, Zettelchen in den Briefkasten aber auch darauf keine Reaktion und deshalb klingel ich jetzt auch nicht mehr.

    Und wundere mich. Und frage mich, ob ich ein Kollateralschaden des Laufs der Zeit in Form einer Adressbuchüberarbeitung geworden bin.

    Montag, 29. Mai 2006
    Besuch aus einem anderen Leben

    Am Wochenende kam sie zu Besuch. Etwa drei Jahre lang haben wir uns fast jeden Tag gesehen, und wenn es nur ein schnelles Bier am Abend war. Eine Zeit lang hat sie bei mir gewohnt, am Wochenende haben wir grundsätzlich zusammen gekocht. Ausgegangen sind wir miteinander selten, eher jeder einzeln und haben hinterher drüber gequatscht und gelacht. Dann ist sie weggezogen und ich hatte auch viel um die Ohren und plötzlich waren 1,5 Jahre um.

    Ich habe mir vorher nicht viel dabei gedacht. Kurz bevor sie da war, hat sie angerufen und ich hab aus dem Fenster geschaut und sie sah noch aus wie immer. Etwas schicker vielleicht. Aber nicht wesentlich anders.

    Als sie die Treppe hochkam, war mir leicht mulmig - war ja schließlich doch eine lange Zeit und telefoniert hatten wir auch nur 2-3 Mal in all den Monaten, gemailt etwa ebenso oft. Bei der Begrüßung dann aber jegliche Scheu wie weggeblasen und alles war wie früher.

    Dann erstmal Kaffee getrunken und erzählt, was gerade so anlag. Es war nicht nötig, die ganzen Monate "aufzuarbeiten" sondern wir konnten einfach da anknüpfen, wo wir aufgehört hatten, ohne dass irgendwas gefehlt hätte.

    Dann musste ich nochmal ins Büro und sie hat in der Zeit eingekauft und gekocht. Dazu gab es dann den Wein und es wurde eine lange Nacht. Auch daran hat sich nichts geändert.

    Das ganze Wochenende emotional völlig "zu Hause" gewesen, es gab wirklich keinen Punkt, an dem zwischen uns bewusst geworden wäre, dass sich in diesen 1,5 Jahren letztendlich das ganze Leben verändert hat. Dass ich eben nicht mehr die Studentenbude habe und nur mir selbst gegenüber verantwortlich bin (und mich auch dementsprechend verhalte). Dass ich - so sehr es mir manchmal Angst macht - jetzt eine gar-nicht-Studentenbude gekauft habe, eine kleine Tochter habe, verheiratet bin und einen "ernstzunehmenden" Job habe. Und das alles in 1,5 Jahren.

    Ist es möglich, persönlich derart unverändert zu bleiben, wenn die Rahmenbedingungen komplett gekippt werden? Oder bin ich so ein guter Schauspieler, dass ich es selbst nicht merke?

    Ich bin gespannt, wann ich sie wiedersehe. Zum Abschied gab es keine Zusagen oder Versprechungen, weil wir ja beide gut genug wissen, wie wenig Zeit tatsächlich bleibt, wenn jeder sein Leben lebt. Und dass derartige Lippenbekenntnisse eigentlich auch nicht notwendig ist. Wenn wir uns wieder treffen, werden wir wieder nahtlos anknüpfen können. Oder wenn nicht, haben wir auch nichts verloren.

    November seit 6822 Tagen

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