Einmal ist keinmal. Einmal ist nicht keinmal. Das Ding an einer Sucht ist, dass einmal eben nicht keinmal ist. Dass die Freiheit, sagen zu können, dass einmal keinmal ist, komm Schwamm drüber vergessen vorbei, eben nicht mehr besteht. Einmal ist der Beginn einer Folge, der Beginn einer Akzeleration.
Das Ding an einer Sucht ist auch, dass "nie wieder" so verdammt lang ist. Dass "nie wieder" eben nicht "nur wenn's keiner merkt" ist, oder "nur eine Ausnahme" oder "nur im Urlaub mal" oder "erst wieder wenn ich in Rente gehe". Nie ist nie. N-I-E. Ende. Auf der einen Seite ist das sehr einfach, denn da gibt es nichts zu diskutieren. Einmal ist einmal und nie ist nie. Sehr übersichtlich. Andererseits ist es so verdammt ungerecht, hier nicht entscheiden zu können, entscheiden zu dürfen, denn nie ist nie. Klar kann ich mir sagen, dass ich die Entscheidung an einem vorgelagerten Punkt treffe - vor dem "einmal (noch)" statt vor dem "(noch) einmal", und wo ich entscheide ist doch egal. Genau, blablabla. Ist es nicht. Ist es nicht. Selber ein Bein gestellt und nix mehr zu entscheiden weil nachgewiesen inkompetent. Ach was, inkompetent, menschlich halt. Lasst mich doch in Ruhe...
Das Ding an einer Sucht ist auch, dass es am Anfang schwer ist aber dann doch auch einfach, denn die Probleme sind real. Liegen die Karten auf dem Tisch, dann passt jeder auf. Die Konversation um einen herum wird mitleidig-verständnisvoll um das brisante Thema herum gesteuert und nähert sich ein Uneingeweihter auch nur ansatzweise dem Tabu so wirft sich jemand dazwischen und spricht engagiert über's Wetter. Jede Veränderung, ob körperlich oder das Verhalten betreffend, wird registriert, analysiert, diskutiert. Ja-ha-ha-haaaa.
Nach ein paar Jahren ist dann ja alles in bester Ordnung. Kein reales Problem vorhanden. Ja, ihr geht es gut... Hmhm, läuft alles rund, ... sehr stabil, das ist vorbei... . Rückfälle kommen immer dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Wenn sie am unnötigsten sind. Wenn die Sicherheit da ist, dass es nicht mehr passiert. Denn Sicherheit und Wachsamkeit schließen einander aus.
Kein reales Problem mehr. Alles nur im Kopf. Gar nicht wirklich da. Läuft alles rund, sehr stabil. Eimal nur. Ich hab das im Griff. Natürlich nicht. Unnötig. Absolut unnötig. Einmal, nur um mir zu zeigen, dass ich es im Griff habe. Einmal entscheiden. Einmal den Kopf in den Nacken werfen und das Schicksal auslachen. Beiß doch, wenn Du Dich traust! Das ist natürlich alles sehr pubertär und unvernünftig. Lasst uns um Himmels willen erwachsen und vernünftig sein, wenn sonst schon nichts...
Da stehe ich auf der gänseblümchenübersähten Wiese neben dem Spielplatz und die Handlungsstränge driften auseinander.
Während ich besänftigende Worte an die Freundin richte, läuft in meinem Kopf ein Film ab in dem ich den gelben Kinderfahrradhelm auf ihr silbernes Wagendach donnere, immer und immer wieder. Während ich beruhigend auf die Kinder einrede und kleine Späße mache, brülle ich bis meine Stimme überschlägt. Während ich dem einen Kind sein Kuscheltier und dem anderen eine Schokonuss ins verklebte Händchen drücke, trete ich mit den Füßen auf die Speichen des Laufrades bis sie brechen und schleudere die M&Ms über den ganzen Spielplatz. Während ich sanft die Tränchen der beiden abwische und die Sitzgurte festziehe, trete ich Dellen in die Stoßstange und spucke Gift und Galle.
Wie mit einem straffen Gummiband verbunden, die beiden Handlungsstränge. Fast körperlich die Anstrengung sie auseinander zu halten. Immer wieder ein kurzer Moment, in dem sie gefährlich nah zusammenschnellen, mich sich verwickelnd zu zermalmen drohen und nur durch höchste Konzentration wieder in Sicherheitsabstand gestemmt werden.
Ein kurzer Moment völliger Ruhe, eine Millisekunde, wie das Auge des Sturms. "Wie weit kann Selbstkontrolle gehen?" fragt mich eine spöttisch lachende Stimme in meinem Kopf.
Die Gesichtshaut spannt. Ein Nerv zuckt in der Augenbraue. Mit brennenden Augen und spröden Lippen lächele ich, die Haare wie zerrauft, ohne sie berührt zu haben.
Eine zuschlagende Wagentür und ein startender Motor. Ich sinke auf der Gänseblümchenwiese zwischen verstreuten Schokonüssen - rot, gelb, grün - auf die Kniee. Ich stehe auf der Gänseblümchenwiese zwischen verstreuten Schokonüssen - rot, gelb, grün -, der Rücken und die Schultern so gerade, dass es schmerzt.
Ich stecke mir eine grüne Schokonuss in den Mund und zerbeiße sie. Die Handlungsstränge verbinden sich.
Dr. Jekyll und Mr. Hyde mustern sich abschätzend, zermalmen eine Schokonuss zwischen den Backenzähnen und schließen Frieden. Vorerst.
Floskeln hört niemand gern. Besonders ungern am Bahnsteig. "Regionalexpress NachHause auf Gleis 6 verspätet sich auf unbestimmte Zeit". Es gab mal Zeiten da wünschte ich mir bei solchen Gelegenheiten, zumindest im warmen Zug statt am zugigen Bahnsteig zu sitzen. Vor den eigenen Wünschen soll man sich wirklich in Acht nehmen. Einmal fand dann ein Zug nach einem kleinen, kurzen Ruckeln mit quietschenden Bremsen ein jähes Fahrtende. "Wegen eines Personenschadens verspätet sich..." Vier Stunden in sengender Sonne im stehenden Zug, während draußen weißverhüllte Menschen Dinge in Plastiktüten verstauten. Vier Stunden keine Gesprächsthemen gefunden und versucht, nicht aus dem Fenster zu sehen. Es gibt ein Ruckeln, das man nicht vergisst. Das noch Jahre später im Traum nachruckelt. Das Gefühl gibt, irgendwie beteiligt gewesen zu sein.
Irgendwie beteiligt. Floskeln. Eine Stimme auf meinem Anrufbeantworter. Wie weggewischt die langen, nachdenklichen Nächte, Deine funkelnden Augen, wenn Du gelacht hast, dieses mitreißende mädchenhafte Lachen und Deine Locken, die nicht echt waren, wie so wenig an Dir echt war, zu wenig; nie war uns etwas genug, immer Achterbahn, nie den leichten Weg genommen, jedes Spiel gespielt, immer ein Stück weiter als möglich, immer wolltest alles ausreizen und Du hast im letzten Moment einen Rückzieher gemacht, mich stehen lassen aber Dich verloren, Dich verstrickt, zu viele dramatische Abgänge, zu viele vermeintliche Abschiedsbriefe und vermeintliche Rettungsaktionen. Nur noch eine Stimme auf meinem Anrufbeantworter, zu wenig Geduld vielleicht, zu wenig Verständnis vielleicht, einfach unzulänglich vielleicht, Fahrtende. "Wegen Notarzteinsatz im Gleis...", ein weiteres Ruckeln im Traum und irgendwie beteiligt gewesen. Bleibt mir mit Floskeln vom Leib.
Eben den Wochenendeinkauf erledigt. Die Fußgängerzone ist stets eine strategische Herausforderung. Schnell noch die Straßenseite wechseln, bevor das Kind das schwarze Eselchen mit dem blauen Sattel entdeckt. Lieber den Umweg hinten am Parkhaus entlang statt am Karussell vorbei. Bei der Entscheidung zwischen der Gasse mit den Tierschützern und der Gasse mit den drei Flugzeugen werden die Tierschützer als weniger diskussionsfreudig als der eigene Nachwuchs eingestuft.
Die Fußgängerzone mit Bravour hinter mich gebracht aber jetzt der Faux-pas - es geht genau auf den Flummiautomaten zu, den der Kiosk erst kürzlich unübersehbar auf dem Gehweg platziert hat! Straßenseite wechseln ohne Ampel undenkbar. Ablenkungsmanöver durch geschichtsträchtige Fassaden auf der Gegenseite wenig erfolgsversprechend.
"Komm, wir rennen bis zur nächsten Ampel, mal sehen wer schneller ist" rufe ich munter und buckele die Einkäufe im Schweinsgallopp vorwärts um - den Automaten sicher zurücklassend - an der Ampel mit den Worten "Daaaaaaaaa waren wir aber schnell wie die schnellste Maus von Mexiko!!!" begeistert abzubremsen. Dem mitleidigen Blick der Dame an der Ampel begegne ich selbstsicher lächelnd - Kinder sind doch was Schönes!!
Erst vor der Haustür fällt mir wieder ein, dass ich allein unterwegs bin.
Und immer wieder die Erkenntnis, dass es nicht gelingt, alle Variablen auf Dauer im Sollbereich zu halten; während die rechte Hand etwas aufbaut reißt die linke etwas ein... das Ergebnis, würde ich mich einfach treiben lassen und auf Glückstreffer hoffen, wäre möglicherweise dasselbe.
Und immer wieder die Frage, ob das nicht viel einfacher wäre... sich von anderen abzugrenzen statt sich selbst zu finden.
Ein Wochenende (oder auch erst ein halbes) dort, wo man sich über andere definiert: die hat doch bestimmt 10kg zugenommen (und ich nicht)... die haben sich getrennt und müssen jetzt das Haus verkaufen (und ich nicht)... der hat jetzt den super Job (und ich nicht)... wo das Problem das Interessante ist und nicht die Lösung...
... und ich will nur noch raus, die eigene Nase ist die, die es zu fassen gilt, es ist mein Leben, es geht um mich, und wenn mir alles 1000 Mal in 1000 Teile zerbricht, dann baue ich es halt 1001 Mal wieder auf, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich, ich bin ich...
...
Wenn man der Linie 715 aus der Innenstadt Richtung Außenbezirk folgt, weil man wie immer zu hibbelig ist, um nach der verpassten Bahn auf die nächste zu warten, und lieber die Beute des Einkaufsbummels ein paar Haltestellen vorwärts schleppt, kommt man zu einer kleinen Schneiderei mit vergilbten Gardinen und Kakteen im Fenster.
Hibbelig ist man selten nur einmal im Leben, und so war ich an dieser Haltestelle schon einmal, vor vielen Jahren, nachts, im Regen, ohne Einkäufe aber dafür in Gesellschaft. Ich weiß nicht mehr wie es dazu kam, zu viele Jahre seitdem, oder vielleicht wusste ich es auch nie genau, aber nach einigem hin und her kamen die Worte "natürlich kannich ne Scheibe einschlagen" leicht schlurrig aus meinem Mund. Im Nachhinein wundere ich mich sehr, dass es mir damals so wenig schwer fiel, schwachsinnige Dinge zu tun, es mir aber schier unmöglich war, eine Herausforderung abzulehnen oder etwas Gesagtes zurückzunehmen. An eine gewisse Übelkeit unter dem Adrenalin kann ich mich erinnern und an einen kleinen Gedanken, etwas Dummes zu tun, der mich von der großen Scheibe der Auslage auf die kleinere neben der Tür umzuschwenken ließ, als ob es das besser machen würde. Mehr Adrenalin, ein Krachen, das Gefühl, durch brechendes Eis zu stürzen, jemand reißt mich zurück und mit sich, kalte Luft in der Lunge, ein brennender Hals, viele Glassplitter auf der um den Arm gewickelten Jeansjacke, ein Kratzer am Daumenballen, Dosenbier und das Gefühl, dass jedes La-Lü in dieser Nacht mir galt.
Die Schneiderei sieht noch genauso aus wie vor vielen Jahren, drinnen wieselt ein altes Männlein umher, alles irgendwie in sepia. Ich kann mich so gut verstehen und doch irgendwie gar nicht, ich wünschte, ich könnte es nicht oder ich würde mich besser kennen oder was weiß ich. Wie angewurzelt stehe ich vor dem Laden und das Männlein in sepia grinst und winkt mir zu.
Schwachsinniges zu tun fällt mir noch immer unglaublich leicht. Plötzlich finde ich mich in dem Laden wieder. Während das Männlein auf mich zusteuert überlege ich blitzartig, was ich hier eigentlich will, die Tür hinter mir öffnet sich und gibt mir einige Sekunden mehr zum Finden der Antwort, die wohl irgendwo darin liegt, mich nach der Fensterscheibe von vor zig Jahren zu erkundigen und ob wohl die Versicherung gezahlt hat und falls nicht, was ich schuldig bin. Um dies genauer zu ergründen möchte ich dem neu angekommenen Ladenbesucher Vortrittt lassen, was dieser mit den Worten "Neee, Frollein, ich bin hier Inventar" ablehnt.
"Schöner Tag heute, nech? So sonnig!" ruft das Sepia-Männlein fröhlich, das Inventar nickt und produziert eine joviale Antwort und mir wird klar, dass ich hier fehl am Platze bin, hier braucht keiner was außer vielleicht ich selbst, der Mann denkt seit Jahren nicht mehr an seine Scheibe und er hat einen schönen Tag, alte Geschichten sind unangebracht.
Die Luft wird mir knapp, so als wäre hier zum letzten Mal gelüftet worden, als ich das Loch in die Scheibe schlug. Irgendwas murmele ich und stürze am Inventar vorbei aus dem Laden, auf den drei Stufen knicke ich noch um und stolpere auf das Pflaster, ergreife die Flucht.
Auf Bahnen warten ist nicht meine Stärke. Nach wenigen Minuten schleiche ich zurück, meine gesamte Barschaft in der Hand. Ein Mann mit seiner Habe in Plastiktüten erspart mir die Peinlichkeit, knapp 130 Euro in den Briefkasten einer Schneiderei mit vergilbten Gardinen und Kakteen im Fenster zu werfen. Endlich kommt dann auch die Bahn.
Während der Heimfahrt habe ich das Gefühl, dass sämtliche La-Lüs mir gelten. Zwecks Einlieferung, oder so. Vergangenheitsbewältigung. Keiner braucht das.
Oft macht man sich ja gar nicht so genau Gedanken, wie ein Tag eigentlich nun war, wie es einem geht, wie der Stresspegel gerade so ist. Ich habe jedoch mein persönliches Stimmungsbarometer, das werktäglich gegen 20:30 Uhr - in der ersten Einschlafphase des Novemberregentröpfchens - in Form eines kackbraunen Größerwagens vor dem gegenüberliegenden Haus vorfährt. "Naaang-nang-nang-nang, nang-naaaang, naaaaang" erschrillt die Hupe des Gefährts, woraufhin im 3. Stock des Hauses drei Grazien ans Fenster treten. "Komme gleich" sopraniert die eine, woraufhin der Fahrzeugführer in unverständlicher Sprache zurückschallt. "Komme gleeeeeiiiiiiiiiiich" wiederholt sie noch eine Stufe vernehmlicher. Der Fahrzeugführer dreht nun orientalische Lala bis zum Anschlag auf und verbleibt in Warteposition neben dem Gefährt. Trifft der Sopran am Wagen ein, wird noch einiges Gekreisch mit den zwei im 3. Stock verbleibenden ausgetauscht, bis nach einigem Türenschlagen die orientalische Lala verklingt.
An guten Tagen nehme ich dies schmunzelnd zur Kenntnis, erfreue mich an der kulturellen Vielfalt meines Wohnortes und wippe den Takt der Lala mit den Zehen.
An normalen Tagen bin ich, leicht irritiert, versucht, mit einem nicht mehr benötigten Gegenstand aus dem Fenster auf das Dach des Fahrzeugs zu zielen.
An schlechten Tagen wird automatisch nach Erklingen des ersten "Naaang" Stressbewältigung initiiert und ich begebe mich in bester autogenes-Training-Manier auf eine Phantasiereise: die Treppe hinunter und auf die Straße, wo ich zunächst die Scheinwerfer und dann sämtliche Scheiben des Fahrzeugs eintrete und dem Fahrer dann derart in die Fresse schlage dass er sich fürderhin nicht mehr daran erinnern wird, wo die Hupe zu bedienen ist.
Heute ist anscheinend weder ein guter noch ein normaler Tag...
Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.
Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten; denn die einen geht er nicht an, und die anderen existieren nicht mehr.
Epikur, Brief an Menoikeus
Ich bin ein Stehaufmännchen. Wo Leben ist ist Hoffnung. Das letzte Wort mag gesprochen sein, aber es gibt bestimmt irgendwo noch ein allerletztes. Gelinde gesagt, Entgültigkeit liegt mir nicht, ich kann sie nicht akzeptieren.
Frau Morphine schrieb unlängst darüber und mir wurde sehr unwohl. Frau Schüsselkind notiert ein kurzes Sätzchen am Ende eines Textes und sorgte für ein schlafloses Wochenende. Herr Nyxon schreibt gar einen Längertext den ich nicht bis zum Ende lesen kann.
Ich betrachte mich grundsätzlich nicht als sonderlich memmig, aber Tod ist ein Thema, bei dem mir sofort das große rote Panik-P vor den Augen blinkt und die Luft wegbleibt. Mit den meisten meiner Schwachpunkte kann ich mich mittelmäßig arrangieren, aber kommen Sie mir mit dem Tod und ich bin schneller weg, als Sie die drei Buchstaben aussprechen können.
Kein Kindheitstrauma, keine rationale Erklärung, nichts. Nackte Angst und kein Ansatzpunkt, diese auszuhebeln.
Das ist ein Versuch hier irgendwo einen Fußhalt zu finden.
[edit: ich finde übrigens, dass Epikur, mit Verlaub, da einen Aspekt übersehen hat]
Heute sangen die Vögelchen durch das gekippte Küchenfenster und die Sonne schien in so einem Winkel hinein, wie ich es kenne, von früher, ganz unzusammenhängend mit dem Hier und Jetzt:
Es ist ein warmer Sommerabend und ich renne barfuß die Straße entlang, vom Spielplatz nach Hause, der Asphalt ist warm an den Fußsohlen, wenn er kühler wurde wussten wir immer, der Sommer geht zu Ende, aber jetzt ist er noch warm und beim Laufen macht der Aufprall der Fersen auf dem Asphalt "bumm-bumm" im Kiefer, die Haare sind vom Schwimmen und der Sonne verklettet, Papa wird sie nach dem Baden auskämmen, in der Brust ist ein trockener Reizhusten von zu viel geschlucktem Wasser und zu viel Sonne. Ich laufe nach Hause, die Kirchturmuhr schlägt acht, ich recke mich an die Klingel, drehe mich noch einmal zum Spielplatz um der unter den Kastanien in der Abendsonne liegt, dann summt es, die Tür geht auf, bumm-bumm über den kühlen Steinboden und dann bumm-bumm die ebenfalls kühlen Treppen hoch bis ich den Teppich unter den Füßen fühle.
Eine Umarmung und ein Glas Wasser in der Küche, Mama hat schon das Badewasser eingelassen, Papa sitzt im Wohnzimmer und sieht fern. Husch in die Badewanne mit riesigem Schaumberg, die Beine sind braun und unter dem Schorf am Knie, den ich abknibbele, ist die Haut lustig weiß, ich tauche unter und kratze den Sand vom Strandbad von der Kopfhaut. Mama bringt mir ein Käsebrot und eine geschnibbelte Banane an die Badewanne und erst als die Finger und Zehen schrumpelig sind, klettere ich heraus und lasse mich von Mama trocken rubbeln. Schnell in den Schlafanzug und auf Papas Schoß im Wohnzimmer, die Sonne scheint noch durch die helle Jalousie und während Papa mit einem Kamm die Haare entklettet drehe und winde ich mich um immer wieder einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen, auf Mama in der Küche, auf die umherlaufenden großen Schwestern.
Hier bricht die Erinnerung ab, aber sie hinterlässt ein tiefes Glücksgefühl, kitzelt einen kleinen Hoffnungsfunken hervor, hier doch gerade einen Teil meiner Mitte entdeckt zu haben und hinterlässt die feste Überzeugung, dass jegliches Chaos, jegliches Zweifeln, jegliche Verirrungen mir eigentlich, tief im Grunde meines Herzens, nichts, aber auch gar nichts anhaben können.
Die Sonne scheint und zum ersten Mal seit 6 Jahren habe ich Heimweh, ich will nach Hause, ich habe hier keine Vergangenheit, keine Straßen, durch die ich schlendern kann und die wahlweise mit heiteren oder melancholischen Erinnerungen gefüllt sind, das fehlt mir, das fehlt mir so sehr. Ich will, dass wieder alles so ist, wie es mal war, und bei näherer Überlegung, welche Zeit genau ich mir zurückwünsche, stelle ich fest, dass es sie nicht gibt, diese Zeit, dass es eine Illusion ist, zusammengesetzt aus Fragmenten einzelner Lebensphasen, und es wird sie nie geben. Das macht es einerseits besser, denn ich habe nichts verloren, aber andererseits auch schlimmer, denn ich kann nichts wiederfinden, letztendlich suche ich meine Mitte und die habe ich bislang nie gefunden.
Silvester doch mit den falschen Leuten verbracht denn ich bin neidisch auf sie, auf meine Freundin, die diese Mitte gefunden hat oder schon immer hatte. Sie geht von A nach B wo ich endlos zwischen C und Z eiere. Ich nenne das gern langweilig oder eingeschränkt, aber eingeschränkt ist sie nicht, sie hat sich lediglich zwischen den vielen Möglichkeiten, die sie hat und sieht, entschieden, und langweilig ist sie auch nicht, sie ist gelassen, und nach dieser Gelassenheit sehne ich mich.
Ist man bei ihr zu Besuch, ist eine Leckerei vorbereitet, Geburtstagskarten kommen pünklich am Festtag an, die Wohnung ist jahreszeitlich angemessen dekoriert. Alles ist an seinem Platz, physisch wie psychisch. Man mag das spießig nennen, aber ganz ehrlich, wer freut sich nicht über einen frischen Kuchen, über einen Geburtstagsgruß und über einen freien Sitzplatz auf der Couch? Ganz tief drinnen bin ich ein ordnungsliebender Mensch - ich zweifle an so vielen, ich will nicht noch an dem Aufenthaltsort meines Schlüsselbundes zweifeln müssen denke ich, als ich zum dritten Mal auf eine heruntergefallene Spaghetti trete und voll Schrecken einen Riss im Parkett vermute. Sie hätte die Nudel schon längst aufgehoben, ohne endlos darüber nachzudenken natürlich, und gerade deshalb hebe ich sie nicht auf, ich will sie nicht nach endlosem Geeiere aufheben sondern spontan weil es meinem Naturell entspricht im Lot zu sein und heruntergefallene Nudeln umgehend aufzuheben, oder sonst gar nicht, so.
Und ich vermisse sie so und verfluche die vertane Zeit, denn ich hätte sie viel früher kennen lernen können. Erst kurz vor meinem Wegzug haben wir unsere Gemeinsamkeiten entdeckt, die gemeinsame Liebe zu Dingen, die sonst wenige interessieren, das fehlende Gegenstück gefunden, für ein paar Monate zumindest. Eigentlich kenne ich sie schon ewig und habe sie nur nicht bemerkt, weil sie mir so langweilig und normal erschien und keiner verstand, wieso die beiden ein Paar waren, was er an ihr fand, aber jetzt weiß ich es, oh jetzt weiß ich es. Seit 20 Jahren sind sie zusammen, das ist in unserem Alter absolut lächerlich, wirklich, absurd regelrecht, aber sie hat sich entschieden, von A nach B, wozu endlos ausprobieren wenn man doch weiß was man will. Ich war immer das Relikt aus den wilden Tagen ihres Mannes, ein häufiger Gast mehr für ihn als für sie, mit dem man am späten Abend betrunken versackt, von "früher" spricht und fragt, was "die anderen" so machen, über den man mit großer Toleranz ob der wechselhaft angeschleppten merkwürdigen Gestalten die Augen verdreht.
Ich hätte so gern für 2007 Urlaub von mir, einen Kopf, der irgendwie anders tickt, der nicht alles auf einmal will, der eine Mitte finden, Prioritäten setzen kann, von A nach B, das mag eingeschränkt sein, aber C bis Z bringen nichts, wenn für nichts wirklich Zeit bleibt und alles in einem unsäglichen Chaos versinkt.