Wie bereits bekannt habe ich zum Geburtstag ein Fitnessdingsi bekommen, an dem mich hauptsächlich die Schlaufauswertung interessierte. Schlafen kann ich nämlich enorm gut, ich schlafe sofort ein und – wenn man mich lässt – auch so gut wie immer durch bis der Wecker klingelt, und genau deshalb war mir unbegreiflich, warum ich trotzdem immer so müde bin.
Dieser Aspekt hat sich jetzt geklärt. Meine Schlafqualität ist wirklich hervorragend, allerdings hapert es in der Schlafquantität. Nicht in der Planung – ich gehe ja abends immer um 22:30 Uhr ins Bett, das ist mein fester Plan, so fest, dass sich das in meinem Kopf als Tatsache verankert hat. Von 22:30 – 6:00 Uhr sind es 7,5 Stunden, das sollte ja wohl ausreichen. Tatsächlich hat das Fitnessdingsi aber herausgefunden, dass ich in Wirkklichkeit erst zwischen 0:00 Uhr oder auch mal 1:30 schlafen gehe. So gegen 23 Uhr erhebe ich mich zwar vom Sofa, laufe dann jedoch im Schnitt nochmal 2 km wie ein großes Eichhörnchen auf Speed in der Wohnung herum. "Mäusig sein" nennt Herr N. das. Die Bezeichnung stammt aus der Zeit, in der ich Mäuse hielt und die natürlich auch in ihrem Käfig höchst geschäftig bis fast hektisch, aber gleichzeitig außerordentlich zufrieden mit sich selbst, Dinge tun, deren Sinnhaftigkeit sich dem Beobachter nicht erschließt. Ich gehe also theoretisch um 22:30 Uhr schlafen, praktisch sitze ich bis 23 Uhr auf der Couch und bin dann etwa 2 Stunden mäusig, dann gehe ich ins Bett, schlafe binnen einer Minute ein, wache nach ca. 5 Stunden recht fit auf aber in der S-Bahn fällt mein Kopf schon wieder an die Schulter vom Sitznachbarn. Das hat das Fitnessdingsi herausgefunden, das ist schlüssig, ich habe also keine bislang unerkannte Krankheit, die mir Energie abzieht und über die ich mir Sorgen machen müsste. Alles ist gut.
Weiter hat das Fitnessdingis aber mein Leben nicht nur analysiert, sondern auch bereits verändert. Ich meine damit nicht die Jubelvibration, die es täglich gegen Mittag ausstößt, wenn ich 10000 Schritte zurückgelegt habe und die ich erst für den insgeheim längst erwarteten Aufstand der Maschinen hielt, bei dem das Fitnessdingsi mir den linken Arm wahlweise abreißt oder ihn fremdsteuert und auf dieser Weise die Weltherrschaft anstrebt. Vielmehr meine ich, dass es mir morgens 15 Minuten Entspannung verschafft hat.
Normalerweise fahre ich nämlich morgens mit dem Rad zur S-Bahn. Aus keinem speziellen Grund außer, dass es schnell geht. Bei mir geht ja immer alles schnell (okay, außer Spielzügen beim Backgammon), morgens geht es aber besonders schnell, schnell aufstehen schnell duschen, schnell anziehen, schnell irgendwas mit dem Kind und den Katzen – so wiesele ich (wiederholt) fitnessdingsigemessene 3800 Schritte durch die Wohnung zwischen 6 Uhr und 7:20 Uhr und wenn ich um kurz nach 8 im Büro am Schreibtisch ankomme, atme ich sozusagen erstmal durch und denke mir “Boah. Der Hauptbatzen vom Tag ist geschafft!”
Neulich hat es dann morgens sehr geregnet, das ist mir eigentlich egal und ich fahre trotzdem mit dem Fahrrad, je schneller man fährt, desto weniger nass wird man ja. Nur hatte ich vergessen, irgendwas tuchartiges mitzunehmen, um den Fahrradsattel trocken zu wischen, mit dem Mantelärmel ging es auch nicht gut (Wollstoff) und während mir Regen von oben im Sitzen wenig ausmacht, verursacht mir Regen von unten im Sitzen ein dubios unangenehmes Gefühl. Ich hüpfte und trippelte also ein paar Momente der Entscheidungsfindung nervös um das Rad herum und beschloss dann ganz revolutionär: zu gehen.
Irgendwo hingehen finde ich normal eine höchst unattraktive Tätigkeit, es ist so langsam, ständig sieht man dasselbe weil es kaum vorwärts geht und ein Bein vor das andere setzen ist unglaublich repetitiv. Ich schiebe Bedürfnisse nicht gern auf, auch nicht das, an einem Ziel anzukommen, zumal wenn der Weg keinerlei Zweck erfüllt – nur hatte ich jetzt doch das Fitnessdingsi und das zählt die Schritte, ich habe einen Wettbewerb mit der Kraulschwimmpartnerin und neulich schon das Wanderpinguinabzeichen erhalten und bekanntlich sind meine Motivatoren Wettbewerb und Widerstand. Also ist zu Fuß gehen im Vergleich zu Radfahren nicht mehr komplett unsinnig.
Und dann geschah etwas Unerwartetes: morgens im Dunkeln zu Fuß zur Bahn gehen, während an den Straßen noch die Müllsäcke stehen und alle Gestalten herumschlurfen statt federnden Schrittes ihrem Tagwerk nachzugehen, fühlte sich für mich an wie eine Nacht, die ich in London auf der Straße verbrachte. Da war ich knapp 16 und fuhr zu meiner Schwester nach Schottland, nur, das man eben damals noch nicht in Düsseldorf in ein Flugzeug stieg und in Edinburgh oder Glasgow wieder ausstieg, nein, nein. Man stieg in morgens Düsseldorf in einen Zug nach Köln, stieg dort um in einen Zug nach Calais, stieg dort mittags um auf die Fähre nach Dover, stiegt dort um ein einen Zug nach London, lief dort abends vom Zugbahnhof zum Busbahnhof und nahm dann den Übernachtbus (13 Stunden) nach Aberdeen. Und leider ging auf dem Kanal die Fähre kaputt und dümpelte 8 Stunden im Wasser, bevor es irgendwie weiter ging, so dass der Übernachtbus längst weg war, als ich in London eintraf. Und der Busbahnhof war schon geschlossen, der Bahnhof schloss auch, Geld für ein Hotel hatte ich natürlich nicht, mir fiel also nichts anderes ein, als die ganze Nacht durch die Straßen zu laufen, um nicht einzuschlafen. Das war vermutlich erst etwas anstrengend mit Wanderrucksack und einer Zug-Zug-kaputteFähre-Zugfahrt im Rücken, aber daran kann ich ich überhaupt nicht erinnern. Ich kann mich nur daran erinnern, wie ich durch diese dunklen Straßen lief, vorbei an schlurfenden Gestalten und Müllsäcken und komplett allein war, niemand, den ich kannte wusste, wo ich war. Und die Straße, die Stadt, die ganze Welt war völlig offen, lauter Möglichkeiten, ein riesiges Spielbrett. Unendliche Freiheit.
Eine Ahnung von diesem Gefühl habe ich also im Dezember morgens um halb 8 in einer Nebenstraße in Offenbach wiedergefunden, seitdem gehe ich morgens diese 15 Minutne immer zu Fuß und jage dieser Ahnung nach. Und dann gehe ich ins Büro.