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    Freitag, 20. Juli 2007
    Die Schatzkiste



    I.
    Ganz rechts auf dem Bild, vor einem der Fenster im zweiten Stockwerk, ist eine Kiste. Die ist da schon immer, also seit es mich gibt, daher also, für mich, schon immer.
    Wenn ich früher, als Kleinkind, mit Mama in "die Stadt" fuhr, kamen wir jedes Mal mit der Straßenbahn an diesem Haus vorbei. Die Leuchtreklame entziffern konnte ich noch nicht, aber den Kasten sah ich, jedes Mal aufs Neue staunend, und fragte Mama, was wohl darin sei. Meine Vermutung war, ein Mann, der dort arbeitete, habe seinen Aktenkoffer vor dem Fenster abgestellt und vergessen. Mama glaubte dies nicht, wusste aber auch keine Erklärung. Gern hätte ich dort geklingelt und nachgefragt, welche Bewandnis es mit dieser Kiste hat. Doch Mama ist nicht der Typ Mensch, der bei Fremden klingelt und derartige Fragen stellt. Papa ist solch ein Mensch - jedoch dann wieder keiner, der zum Bummeln in die Stadt fährt, so dass sich die Gelegenheit nie ergab.
    So blieb die Kiste eines der Geheimnisse meiner Kindheit. "Du musst da später mal arbeiten, in dem Haus", sagte Mama. "Dann kannst Du das Fenster aufmachen und in die Kiste schauen."


    II.
    Je älter ich wurde, desto mehr verlor die Kiste an Bedeutung. Ganz vergaß ich sie jedoch nie. Als Jugendliche hätte ich natürlich jederzeit selbst im 2. Stock klingeln und nachfragen können. Zuerst war ich jedoch zu schüchtern, später dann viel zu cool. Es ist erstaunlich, wie einfach es ist, sich selbst im Weg zu stehen.

    III.
    Gegen Ende des Studiums meldete sich meine Chefin, für die ich freiberuflich tätig war, mit den Worten "Kindchen, ich habe einen Auftrag für Dich". Nun wollte ich gar keinen Auftrag, steckte ich doch gerade in der Examensphase mit diversen mündlichen und schriftlichen Prüfungen. "Zumindest sprichst Du mit denen", verlangte sie. So rief ich an, formulierte gleich meinen Dank und meine Absage und hörte die Stimme einer älteren Dame, die in sehr gewählter und dramatischer Sprache vom Unfalltod des Mitarbeiters und der Dringlichkeit der Angelegenheit sprach. Erweiterte ihr Angebot immer mehr, so dass es mir in Anbetracht der Notlage mittlerweile gleichermaßen unmoralisch erschien, es anzunehmen oder abzulehnen und ich mich darauf einließ, "doch wenigstens einmal vorbei zu kommen".
    Am nächsten Tag zur vereinbarten Zeit stand ich vor dem Haus mit der Kiste und drückte die Klingel zum 2. Stock.

    Drinnen ein unbeschreibliches Dreiergespann in Räumlichkeiten, in denen die Zeit stehen geblieben war. Alte Bildung und Herzensgüte und sehr unerwarteter Sinn für Humor. Nachdem wir uns per Handschlag geeinigt hatten, dass ich am nächsten morgen anfangen würde, bat ich darum, die Kiste untersuchen zu dürfen.

    IV.
    Wenn ich jetzt an dem Haus mit der Kiste vorbei komme, muss ich lächeln. Etwas wehmütig war mein Lächeln heute, denn die Räumlichkeiten werden verkauft. Damit wird wohl auch meine Schatzkiste verschwinden.

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