Frau N. ist gebürtige Rheinländerin und verbrachte als jüngstes Kind von mehreren den Großteil ihrer Kindheit unter der Küchenbank oder hinter dem Sofa mit dem Studium des Verhaltens der übrigen Großfamilienmitglieder. Als sie vermeintlich genügend Erkenntnisse gesammelt hatte, um die erziehungserprobten Eltern noch einmal gründlich zu fordern, kam sie unter der Bank hervor und benahm sich so unmöglich wie möglich. Nach zwei Jahren gab sie dies entnervt auf und ist seither weitgehend harmlos.
Im Grunde Ihres Herzens ist Frau N. historische Linguistin, verdingt sich jedoch konsequent an den Meistbietenden und ist momentan im Rapunzelturm bei schlechten Menschen in verantwortlicher Stellung tätig.
Privat lebt sie mit Mann und Kind als Minderheit an einem Ort mit schlechtem Ruf, an dem sie sich sehr wohl fühlt. Sie ist Binge-Verabrederin: macht hochfreudig eine Vielzahl von privaten Terminen um kurz darauf festzustellen, dass ihr das alles zu viel ist und sich ganz und gar einzuigeln. Nach einigen Wochen fühlt sie sich einsam und kontaktarm und der Kreislauf beginnt erneut. Erstaunlicherweise gelingt es Frau N. dennoch, Freundschaften zu schließen und über Jahre hinweg aufrecht zu erhalten. Sie ist noch nie von einem Menschen enttäuscht worden und hegt gegen niemanden einen nachhaltigen Groll.
Frau N. verfügt über eine stringente Logik, mit der sie wechselnde Meinungen zu denselben Themen immer wieder fundiert untermauern kann. Außerdem ist sie überzeugt, dass das Leben letztendlich nur im Kopf stattfindet und das, was andere als "Realität" bezeichnen, lediglich die Rahmenbedingungen sind. Dies erleichtert ihr vieles, führt jedoch zu einer drückenden Eigenverantwortung.
Frau N. gelingt es nicht, an ein höheres Wesen zu glauben. Ihre letzte moralische Instanz ist daher ihr zukünftes Ich, eine etwa 180-jährige Frau in einem Schaukelstuhl vor einem knisternden Kaminfeuer. In Zeiten der Entscheidungsnot befragt Frau N. diese alte Dame zu ihrer (zumeist einsilbigen) Einschätzung der Sachlage.
Merkwürdig leicht fühlte ich mich schon, als ich die Treppe hinunterging. Und führte es zunächst auf die frisch aufgeräumte Handtasche zurück. Das Schaudern auf der Straße hätte auch daher rühren können, dass ich deutlich zu leicht gekleidet war - nur eine Fleecejacke über einem dünnen Pullover - denn mit Kind gerät man ja doch immer ins Schwitzen.
Eine Straße weiter, als aus der polnischen Bahnhofskneipe Musik drang und die Bedienung, die zur Zigarettenpause draußen stand, mir freundlich zunickte, drang der Gedanke dann wirklich durch, dass das Kind ja gar nicht dabei war. Das Kind nicht und der Mann nicht und auch keine Freundin, kein Kollege und niemand anderes mir Bekanntes, und ich war auch nicht unterwegs, um jemanden zu treffen, sondern einfach ganz allein, sozusagen ins Unbekannte, ich, ein Abend, draußen, allein: da darf man sich schonmal so wahnsinnig leicht fühlen.
Für viele mag das etwas ganz normales sein. Für mich ist es das nicht mehr, denn so ein Kind verändert das Leben tatsächlich. Nicht in den großen Sachen, wo man es erwarten würde - da ist man ja auf der Hut! So legten mir eine Vielzahl - samt und sonders wohlmeinende Menschen - während der Schwangerschaft nahe, dass nun ja wohl Schluss sei. also mit den Wochenendreisen, der Stadtwohnung, der ÖPNV-Nutzung und dem Knochblauch essen. Der Grund? Na das Kind! Daheim bleiben, ein Häuschen im Grünen, ein Auto und Schonkost, so gehört sich das doch. Anders geht das doch gar nicht. Ich sagte darauf immer, dass das Kind ja zu uns kommt und sich daher an die herrschenden Gepflogenheiten anpassen müsse. was es - in diesen Dingen - auch tat. In anderen Dingen, diesen winzig kleinen, die alle zusammen den Alltag ausmachen, wurde ich jedoch gnadenlos unterwandert. So fiel mir etwa nach einem Jahr wieder auf, dass bei uns im Flur ein Spiegel hängt (und folgend, das sich mal wieder zum Friseur gehen sollte). Ein anderer, ähnlicher Punkt ist die Handtasche, die ich ja auch schon ansprach. So ein Kind kommt und wie automatisch beginnt man, seine unabdinglich und unbedingt immer mitzuführenden Gegenstände, in ein unförmiges, überfülltes Gebilde namens "Wickelrucksack" zu stopfen. Es ist ja praktisch. Ich hatte letztes Jahr im Sommer dann plötzlich das absolut dringende Bedürfnis, wieder eine Handtasche mein Eigen zu nennen ("eigen" ist in diesem Zusammenhang wichtig, Kinder sind die geborenen Enteigner, weshalb aus meiner Handttasche auch ständig Schnuller, Haarspängelchen, Traubenzuckerbonbons und Spielzeug zu entfernen sind. Was ich gestern tat. Dies alles nur als Hintergrundinformation.
So war ich also, allein, mit einer Handtasche voller Erwachsenengegenstände in den Freitagabend unterwegs. Ganz allein - das heißt keine Rolle ausfüllen, auf niemanden Rücksicht nehmen, niemanden berücksichtigen, für niemanden verantwortlich sein, auf niemanden warten und niemandem folgen, nichts absprechen, nur für sich selbst Entscheidungen treffen. Manche haben das jeden Tag. Für mich ist das wie Urlaub von mir selbst.
Schön war das.
Nach einem Tag, der morgens um Viertel nach 6 begann und für inhaltlich zwei bis drei Personen locker ausgereicht hätte, war ich um Mitternacht kurz davor, nach einer 10-minütigen Einbeinlandung irgendwann zwischendrin, endlich wieder nach Hause zu kommen.
Geschätzt waren es noch 300 Meter Luftlinie, ich stand im Regionalexpress in Nähe der Tür und neben mir ein jüngerer Herr aus irgendwo Richtung Fernost. Gemeinsam rollten wir mit den Augen bei Betrachtung des Dritten im Bunde, eine langen, schlacksigen kaukasischen Gestalt mittleren Alters, die offenbar einen netten Abend gehabt hatte und durch ihr Schwanken den gesamten vorderen Türraum einnahm. Vorher hatte dieser Mann noch für sympathische Unterhaltung gesorgt, als nämlich der Zugbegleiter vorbeistürmte und uns "Gab es da gerade eine Ansage??" zurief und er, der Schwankende, mit "Neeee, ich mach heute lieber keine Ansage mehr" antwortete. Ein perfekter Nonsens-Dialog entspann sich (der noch schöner war als der, den ich am Morgen mit einer älteren Dame bei der Post, bzw. vor der Post, führte, die mir erst nach vielen Worten gestattete, ihr auf der Treppe mit dem Laufwagen behilflich zu sein, obwohl ich kein Mann bin) und der Zugbegleiter konkretisierte: "Ich meine doch eine Zugansage" und der Schwankende konkretisierte ebenfalls "Ach kommense, das interessiert doch hier im Zug keinen, ich halt lieber den Mund, und in meinem Zustand erst..." Recht so, obwohl ich bei all dieser Einsicht beinah schon gespannt gewesen wäre, mehr zu erfahren.
Jedenfalls hielt der Zug am Bahnhof und Schwankende nahm den grünen Türöffnungsknopf ins Visier, stach immer wieder mit seinem dünnen krummen Zeigefinger vorbei. Der Fernöstliche und ich praktizierten noch eine Runde gemeinschaftliches Augenrollen bis ich schließlich den anderen grünen Knopf an der Seite betätigte und der Schwankende mit einem zufriedenen "Hab ich Dich!" Richtung seines Knopfes aus der Bahn taumelte. Wir ließen ihm einen Sicherheitsabstand und er steuerte auf die Treppe zu, verlor jedoch kurzzeitig das Gleichgewicht und stützte sich am Zug ab. Der Zug fuhr an und der Schwankende stürzte in den Mind-the-Gap!-Spalt.
Nun kann man ja sagen, was man will, aber meine mir durch konsequentes Giga-Tasking anhaftende zeitweise Ungeschicklichkeit hat im Laufe der Jahre hervorragende Reflexe hervorgebracht. Ich bin die Frau, die mal auf einer Silvesterparty ein randvolles LIIT-Glas mit dem Rucksack vom Tisch fegte und dieses vor Aufprall auf dem Fußboden wieder auffing, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Und es war deutlich nach Mitternacht und nicht das erste LIIT-Glas und keine Happy-Hour-Variante. So gelang es mir auch, den Mann noch am Arm zu erwischen und der (vermutlich irgendwie extrem kampfsportgeschulte) Fernöstliche half tapfer mit. Der Zug hielt wieder an, den Mann hatten wir äußerlich unversehrt auf den Bahnsteig gezerrt, nur leider war er nicht mehr bei Bewusstsein und schien auch auf den ersten Blick nicht zu atmen.
Während ich mich noch gedanklich in mein ja gar nicht so lang zurückliegendes Ersthelfertraining vertiefte, begann der Fernöstliche bereits mit "Maßnahmen" und der Zugbeleiter telefonierte. Fast unmittelbar waren Polizei und Rettungsdienst da und mir war kalt und komisch im Bauch und ich musste unbedingt nach Hause. Ein Polizist wollte noch so einiges wissen, aber da mir nichts, was ich sagen konnte, als unmittelbar dringlich für den Gesundheitszustand des Mannes erschien, gab ich ihm meine Kontaktdaten für Fragen ein andermal.
Keine Antworten am Ende eines solchen Tages kurz nach Mitternacht nach Sekundenbruchteilen, die dem Gehirn sämtliches Wasser für den bald folgenden Gedankentsunami abziehen.
Auf der dunklen Autobahn drang er ganz nach innen durch, dieser Gedanke, dass das Leben eines der absurdesten Dinge an sich ist. Angefangen von diesem Zusammentreffen von ein bisschen Gubber, aus dem Leben entsteht, über das Wunderding Organismus (wie viele lasen jetzt hier Orgasmus, bitte?) mitsamt diesem undurchschauberen und unerklärlichen Gehirn.
Diese Anmaßung, das menschliche Leben, diesen skurrilen Zufall, in irgendeiner Weise für bedeutsam zu halten. Kalte sternklare Nacht in einer Welt, für die die Menschheit an sich doch ein Witz ist, und die Erkenntnis ging so tief, dass ich hätte weinen können, wenn ich mich nicht so nichtig und irrelevant gewusst hätte, dass dies ganz irrsinnige und unangebrachte Dramatik wäre.
Was ist das denn schon, mein Leben. Die Absurdität von Bemühungen wie Arbeit, Schuhe putzen oder moralischen Überlegungen. Geradezu himmelschreiend. Ein Gefühl bis ins Mark von wahnsinniger Angst und wahnsinniger Freiheit zugleich.
Alles schnell verdrängt.
Sie ging wohl in dieselbe Klasse wie meine Schwester, genau weiß ich das aber nicht, denn ich war damals noch im Vorschulalter. Zu verschiedenen Zeiten saßen damals die verschiedensten Menschen bei uns am Mittagstisch, bleiben über Nacht oder auch mehrere Wochen oder Monate, und allen war nur gemeinsam, dass sie irgendein Problem hatten. Ihre Mutter war gerade an Krebs gestorben, der Vater natürlich berufstägig und weitere Verwandtschaft nicht in der Nähe, so dass sie, die mit meiner ältesten Schwester und einer weiteren Freundin die drei Musketiere bildete, für längere Zeit die Nachmittage bei uns verbrachte.
Als sich langsam alles wieder einpendelte, verbrachte sie weniger Zeit bei uns, aber die Verbundenheit zur Familie und die Freundschaft mit meiner Schwester blieb bestehen. Die drei Musketiere (sie nannten sich längst nicht mehr so aber in meiner Erinnerung blieben sie immer genau das), machten zusammen ihr Abitur und wählten denselben Studiengang. Während die anderen beiden begannen, auf eigenen Füßen zu stehen, blieb sie in der Wohnung ihres Vaters. Auf Feiern hab ich sie als ewig angespannte Randfigur in Erinnerung und auch bei Begegnungen im kleinen Kreis verließ ihre Nervosität sie nie - obwohl ich sie vor vielen Jahren zum letzten mal sah, habe ich noch ihre so eigenartige Aussprache im Ohr, die ich darauf zurückführe, dass selbst ihre Lippen ständig unter Spannung standen.
Als die beiden anderen Deutschland verließen, blieb sie zurück. Ihr Studium hatte sie mittlerweile aufgegeben, was genau sie den Tag über tat, weiß ich nicht. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie wieder präsenter in meinem Leben, weil sie mit Macht hineindrängte. Vermutlich sah sie in mir einen Ersatz für meine ältere Schwester und sie schenkte mir Bücher und Musik, lud mich ins Kino ein und zum Essen, zum Trinken, zum Reden. Ich war damals 16, ich konnte mit dieser Aufmerksamkeit nichts anfangen und fuhr in diesen Jahren meinen ganz eigenen Film, so dass ich mich nicht einmal mehr erinnere, wie die Situation sich auflöste. Für mich verschwand sie einfach von meinem persönlichen Radar.
Ich sah sie zwischenzeitlich, wenn sie meine Eltern besuchte. An einem Abend fiel mir auf, dass sie mit bunten Glassteinchen, die auf dem Tisch lagen, spielte, Muster damit legte, aber wenn sie weiter entfernt liegende Steine nehmen wollte, immer wieder daneben griff. Sie bräuchte eine Brille aber würde sie nicht tragen, sagte sie mir, als ich sie darauf ansprach. Ein anderes Mal bat meine Mutter mich, ihr irgendetwas nach Hause zu bringen. Ich saß in ihrem Zimmer, in der Wohnung ihres mittlerweile pensionierten Vaters, sah mich um, sie zeigte mir Zeitschriften, Bilder, es war totenstill in der Wohnung und perfekt aufgeräumt, die Sonne schien hinein, eine Küchenzeile mit Edelstahlspüle und Fenster am Ende und es war warm, der Teppich dunkelgrau und ich fragte mich, wie es wohl sei, in dieser Wohnung zu leben, ich fragte mich, was für ein Leben sie lebt und wieder, was sie den Tag über macht, und ich fragte sie, und sie sagte, sie nehme sich gerade eine kleine Auszeit.
Mehrere Jahre später, als ich meine eigene Wohnung bezog, suchte sie wieder Kontakt. Wir trafen uns an der Straßenbahn, sie roch merkwürdig und ihre Hände zitterten ständig, wir gingen zusammen ins Kino, ihre Unentspanntheit zusammen mit einer Intensität, bei allem, was sie sagte und tat, empfand ich als unangenehm. Sie war bemüht, sehr bemüht, es mir recht zu machen, das Gespräch in Gang zu halten, ich wünschte mich nur weit weg. Sie rief noch oft an oder kam vorbei, bot Hilfe im Studium an (dieselbe Fachrichtung wie die ihre, damals), ich fühlte mich bedrängt und nach einiger Zeit rief ich einfach nicht zurück und verschwand in einer Seitenstraße, wenn ich sie von weitem ah. Sie hinterließ Nachrichten über meine Mutter, aber ich wollte einfach nicht, ich konnte mit dieser übriggebliebenen Freundin aus einem früheren Leben meiner Schwester nichts anfangen und auch kein Gefühl der Verantwortung empfinden. Ihren Vater traf ich oft, einen sympathischen älteren Herrn, der sich nur Glück und Zufriedenheit für seine Tochter wünschte und sie in allem, was sie tat, zu unterstützen versuchte.
Es folgte mein Umzug in eine andere Stadt weiter weg und ich habe sie nie wieder gesehen, nur Grüßen gingen hin und her und kurze Randbemerkungen, von meiner Mutter, von meiner Schwester.
Nach einer Woche im Krankenhaus starb sie gestern abend an Leber- und Nierenversagen, bedingt durch langjähigen Alkokholmissbrauch.
Adios, Aramis.
Zwischendrin immer wieder kleine Tropfen der Erkenntnis, die sich zu einem Regenguss entwickeln. Die Erkenntnis, nichts Besonderes zu sein. Nicht, dass die Logik dies nicht sowieso diktieren würde, aber das Ego und die Logik sind gute Freunde und so hält der eine den Mund wenn der andere spricht.
- Willkommen auf dem Boden der Tatsachen. Oh, schon wieder auf dem Sprung? Na, wie Du meinst. Du weisst ja, ich bin immer da, du kannst jederzeit auf mir bruchlanden, schön hart und schmerzhaft. Was, noch nicht? Gut, heb ruhig nochmal ab in die nächste Runde. Ich warte.
- Ja, ich weiss, danke für das Angebot.
Meine Eigenschaft des Jahres 2007: Grenzenlose Naivität.
Man sagt ja, dass Freundschaft wachsen müsse. Ich finde das gar nicht. Ich schließe meine Freundschaften Knall auf Fall und von jetzt auf gleich. Und ich bin damit noch nie auf die Nase gefallen. Von Freunden spreche hier, nicht von Bekannten. Von Leuten, denen man in die Augen sieht und weiß, dass sie einen im Idealfall für den Rest des Lebens begleiten. Mal näher dran, mal weiter weg, aber deshalb nicht weniger wichtig.
Ich beklage mich immer mal wieder, dass in meinem Fall eher das "weiter weg" zutrifft. Aber ich glaube, ich habe mich wirklich nicht zu beklagen. Wenn ich - wie letztens nachts - im Traum den absoluten persönlichen Super-GAU produziere, leichtfertig selbstverschuldet und unglaublich dumm, fallen mir beim panischen Aufwachen fünf Personen ein, an die ich mich wenden könnte. Die mir nicht helfen könnten, denn da wäre nichts zu helfen, aber die da blieben statt sich angewidert abzuwenden. Die zwar hilflos, aber nicht überfordert wären und die die Misere mit mir aushalten würden. Die nicht kritiklos wären, sondern mit vermutlich schärferer Zunge als der Rest der Welt verbale Kopfnüsse für unerträgliche Blödheit verteilen würden - aber immer zu mir stünden.
Interessanterweise kommen diese fünf Personen aus meine verschiedensten Lebensbereichen und -phasen. Und sie kennen einander, stehen sich aber bestenfalls gleichgültig gegenüber. Teilweise können sie einander jedoch auf den Tod nicht ausstehen.
"Alles ist gut, alles ist gut", sage ich mir immer wieder aber es dringt nicht durch. Es passiert mir manchmal, dass ich gewisse Ereignisse nur annehme, mir nur vorstelle, und schon wird ein Gedankenprozess in Gang gesetzt, der das nur Vorgestellte der Situation nicht mehr beachtet, der Bestand aufnimmt, analysiert, bewertet, entscheidet. Ganz real, in meinem Kopf. Bewertet, wo das objektive Maß fehlt und entscheidet, was ich nie entscheiden möchte. Durch jede wache Minute zieht sich dieser Gedankenstrom und findet erst sein Ende, wenn er alle Ecken, auch dreckigsten und unangenehmsten ausgeleuchtet hat und komplett zu Ende geführt wurde, zu welchem Ende auch immer, an dem die Entscheidung steht. Die Entscheidung, die ich treffen muss, in meinem Kopf.
Dann dümpeln die Gedanken wieder in ruhigeren Gewässern aber die Erinnerung bleibt, und das Wissen über einen weiteren Teil von mir, den ich so genau eigentlich gar nicht kennen wollte.
Für nichts und wieder nichts. Alles nur im Kopf.
Warme, weiche Wattewolken und entspannt, so entspannt und dabei so im jetzt und hier und bei mir wie sonst nie und dann auf die dunkle Straße katapultiert und weiter im Automatik-Modus, wie eine Aufziehfigur mit reibungslos funktionierender Mechanik. Im Dunkeln auf der Autobahn und nicht müde, so entspannt und nicht müde.
Erdrückender, zerrender Alltag. Keiner versucht hier, den anderen zu verletzen. Es ist eher ein Fehlen der Aufmerksamkeit, die Zwischentöne werden nicht mehr wahrgenommen, wie soll da große Musik entstehen. Und wo es ganz besonders praktisch ist, passiert dann auch Rücksichtslosigkeit. Ungewollt, nebenher. Sorry. Wieso ist nicht einfach alles leicht?
Das komische, das paradoxe, in einer Situation, die einer anderen absolut kontraproduktiv ist, etwas zu finden, das der anderen hilft. Das ist nicht paradox. Das ist Leben. Das tut weh. Und ich glaube immer noch, dass das eine, auf merkwürdige Weise, mit dem anderen nur sehr indirekt zu tun hat. Vielleicht ist das naiv und ich mache mir was vor. Vielleicht ist das naiv und das ist immer so.
Worte zäh in den Fingern und im Mund weil doch alle irgendwann schonmal gesagt wurden. Wozu schreiben. Wozu reden. Jede Geschichte war schonmal da, jedes Lachen war schonmal da.
Das Gefühl, eine Muschel zu sein, in einer geräumigen, vertrauten, bequemen Schale. In einem fremden, wilden, kalten Meer, und immer, wenn ich die Schale öffne, mit weit aufgerissenen Augen durch das
kalte Wasser geschleudert werden, dunkles Blaugrün sehen und gischtiges Weiß und ein Stück vom grauschwarzen Himmel, bevor in Augen voll mit kaltem Wasser alles verschwimmt. Das Gefühl, nicht angekommen zu sein, nach all der Zeit nicht. Ein Fremdkörper zu sein, nicht in der Masse aufzugehen, nicht einfach mit dem Fahrrad unterwegs sein zu können, in dunklen regennassen Straßen mit bunter Neonbeleuchttung, und an jeder Ecke vertraut zu sein. Das Gefühl, das sowieso nicht zu wollen. Aber vielleicht zu brauchen.
Momentan ist mir nach einem ordentlichen Novembersturm, sei es, um die inneren Zustände auf äußere ableiten zu können. Mit wildem Regen und Wind, der das Altbauschiff stöhnen und ächzen lässt, ein Tag der nicht richtig hell wird und an dem es am Abend indiskret scheint, das Licht anzumachen. So dass alle etwas näher zusammenrücken. Man sich besinnt, auf das, was man hat, konsolidiert es, läuft es auch nur auf eine Kleinigkeit hinaus - die aber hat man sicher und bewahrt sie sich, bei all dem Wahnsinn draußen, statt immer wieder das Fenster aufzureißen um zu fühlen, wie stark der Wind gerade ist.
Zu den Klängen von Purple Rain und es hätte passender nicht sein können. Da steht er mit einem Rennrad an der Ampel, Businessklamotten, und zückt während der Rotphase sein Handy. Ich kann nur starren, die Augen liegen immer noch tief im Gesicht, die Schatten drunter sind vielleicht sogar dunkler, ansonsten deutlich aufgeräumter. Völlig aus Ort und Zeit gerissen, nichts passt hier, aber: unverkennbar.
Ich starre und starre während der Regen strömt und er hebt den Kopf, sein Blick streift mich, kehrt zurück und er starrt und starrt. Dann stehen wir uns gegenüber auf dem Bürgersteig und sind uns so fremd, in dieser anderen Stadt und in diesem anderen Leben.
Nicht, dass ich in den letzten knapp 20 Jahren an ihn gedacht hätte, aber wenn, dann hätte ich ihn eher unter irgendeiner Brücke verortet als hier. So unterhalten wir uns kurz, versuchen, die zwei Jahrzehnte in ein paar Minuten Bordsteinunterhaltung zu packen, weil wir beide wissen, dass wir uns nicht zu einem Bier oder Kaffee verabreden werden. Wir haben nichts mehr gemeinsam mit dem, was wir einmal teilten.
Ein komisches Gefühl ist es, jemanden nach langer Zeit wiederzusehen, mit dem man solche Extremphasen durchgemacht hat. So ein bisschen wie wenn zwei Überlebende eines Schiffbruchs sich plötzlich auf der einsamen Insel begegnen.