Disclaimer: Dieser Beitrag ist natürlich frei erfunden.
Viele Menschen behaupten, ich wäre stur. Diese Menschen kennen meinen Vater nicht. Papa ist Westfale, durch und durch. Wenn Papa etwas will oder sagt, ist das so. In den letzten Jahren kommt noch eine Portion Altersstarrsinn hinzu.
Gegenüber meines Heimathauses war vor vielen Jahren einmal eine Bushaltestelle. Der Bus fährt dort schon lange nicht mehr, die Haltebucht ist noch vorhanden und ruft am Fußgängerzonen-Randgebiet wie eine Oase die nach einem Parkplatz Dürstenden herbei. Kurz vor dem Einparken entpuppt sich das ganze als eine Fatamorgana - Halteverbot, absolut, dokumentiert mittels Verkehrsschild.
Wenn ich meine Eltern besuche, stoße ich zunächst direkt auf das Haus zu, um mich sodann in Spiralbewegungen immer weiter zu entfernen, bis es mir gelingt einen Parkplatz zu ergattern. Papa erwartet mich am Fenster. Sieht er mich unter dem Gepäck schwankend auf das Haus zusteuern, kommt er mir entgegen um einen Teil der Taschen zu nehmen und zu sagen: "Warum hast Du nicht da drüben geparkt?"
"Da ist Halteverbot, Papa", antworte ich.
"Schon längst nicht mehr, der Bus fährt noch nicht mehr", sagt Papa. "Da kontrolliert keiner, da kannste doch parken. Die haben nur vergessen, das Schild weg zu machen. Ich hab da schon angerufen, aber die tun nix. Seit Jahren schon! Saubande. Kümmert sich keiner. Dafür zahl ich Steuern!".
"Ich hab da aber schon zweimal ein Knöllchen bekommen", wage ich einzuwenden.
Papa kaut auf seinem Gebiss. "Frechheit ist das. Hast du die etwa bezahlt?? Verbrecher!".
Da unsere Familie gern Rituale pflegt, verläuft das Gespräch bei jedem Besuch in etwa gleich. Nur beim letzten Mal war ich etwas angestrengt und mißgestimmt und verließ die gewohnten Pfade.
"Halteverbot ist da, wo das Schild steht, Papa", sagte ich, um das Gespräch abzuwürgen.
Wie wir wissen, bestraft der liebe Gott kleine Sünden sofort. Papa blieb wie angewurzelt stehen. "Dann muss das Schild weg!" Er lief zur Haltestelle zurück um zu schauen, wie das Schild befestigt ist. "Das mach ich ab. Das muss weg". Nur mit Mühe konnte ich ihn bewegen, das Schild vorerst Schild sein zu lassen.
An der Kaffeetafel saß Papa gedankenverloren da und kaute auf seinem Gebiss. Wenn er sprach, dann von dem Schild, und wie es zu entfernen sei. Doch gab es nach dem Kaffee Fußball und Bier, so dass die Angelegenheit vorerst in Vergessenheit geriet.
Vorerst, denn Papa vergisst nichts, und so etwas schon gar nicht. Das Schild war Thema beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendessen (der Tagesablauf richtet sich bei uns daheim im Wesentlichen nach den Mahlzeiten - zwischendrin war das Schild jedoch auch Thema).
Am Abend saß ich mit meiner Schwester zusammen.
"Wie konntest Du das nur tun, ihn auf diese Idee bringen!", warf sie mir vor. "Du kennst ihn doch, der geht demnächst hin und macht das Schild weg und gibt es richtig Ärger!".
Ich versuchte zu beschwichtigen, dass es so viel Ärger nicht gibt, wenn man sich an einem Verkehrsschild vergreift. Doch meine Schwester hatte schon weitergedacht: Papa würde das Schild niemals heimlich entfernen, da er sich ja völlig im Recht fühlt. Am hellichten Tag würde er mit Leiterchen und Akkuschrauber zu Werke gehen. Eventuell herbeigerufene Ordnungshüter würde er beleidigen (Saubande! Verbrecher!), eventuell zu zahlende Ordnungsgelder würde er verweigern, bis aufs Äußerste. Die Zukunft sieht düster aus. Und ich bin Schuld.
"Und jetzt??", fragte ich meine ältere Schwester, die immer Rat weiß. Sie schwieg. "Wir müssen ihm zuvorkommen", sagte sie dann.
In einer Nacht- und Nebelaktion stelle ich fest, dass es über die Jahre nicht einfacher geworden ist, Verkehrsschilder von ihrem Bestimmungsort zu entfernen. Der Vorteil des besseren Werkzeugs wird aufgehoben durch ein geringeres Maß an Kletterübung und Scheiß-Egal-Haltung. Aber Sturheit ist erblich und so ist es das Schild, das letztendlich aufgibt.
Papa bekommt in diesem Jahr ein "Halteverbot"-Schild zu Weihnachten. Ich bekomme einen Parkplatz vor der Haustür.