"Ich möchte noch ein bisschen raus" seile ich mich vom Familienkaffee, zu dem ich hinterrücks eingeladen befohlen wurde, ab. Die Schwiegermutter und die angeheirateten Tanten schauen ein wenig pikiert, ist es doch so schön kuschelig warm drinnen und draußen wird es schon dunkel, und wir sitzen doch hier so nett. Schließlich werde ich mit dem Auftrag, mir doch noch ein hübsches Geburtstagsgeschenk zu kaufen, entlassen.
Obwohl erst Spätnachmittag ist draußen schon schwarze Nacht, nur oben am Himmel eine blasse Mondsichel. Ich schlendere eine Weile durch das Viertel und schaue durch die erleuchteten Fenster der schönen Altbauwohnungen, vielleicht finde ich ja ein paar Anregungen für Stuck, Lampen und Vorhänge. Schade, dass kein Schnee liegt, aber das Laub aufwirbeln macht auch Spaß.
Dann erklingt Musik, die mich wie eine Faust in den Magen trifft. Ich bleibe stehen und starre ins Dunkle. Eine halbe Straße weiter steht ein dicker Mann mit Einkaufswägelchen und singt russische Lieder, aus dem Wägelchen ertönt Begleitmusik. Ich verstehe kein Wort aber ich kann nicht weitergehen und es ist anstrengend, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen.
Nach einiger Zeit kann ich mich genug sammeln, um mein Münzgeld aus der Tasche zu kramen und es dem Mann mit seinem Wägelchen in die Mütze zu werfen. Der Sänger, ein älterer bauchiger Herr, küsst mir die Hand und murmelt etwas auf Russisch, von dem ich nur das Wort "spasibo" verstehe. Artig fließt in meinem Kopf die Floskel "nje sa schto" aus tiefen Hirnwindungen direkt in den Mund und wird artikuliert. Das Gesicht des Sängers erhellt sich, er nimmt meine Hand zwischen seine und spricht auf mich ein. Ich verstehe nur jedes fünfte Wort, genieße aber den Klang der Sprache. Ich glaube, das Wort "Kakao" zu hören und bemerke, dass ich bereits in das gegenüberliegende Cafe geschoben werde. Ich radebreche etwas von "ja nje ponjala" und "njemnoga russki", aber da sitzen wir schon beim Kakao und er spricht und spricht und spricht. Ich versuche gar nicht mehr, zu verstehen sondern lausche der Sprache wie Musik. Etwa eine halbe Stunde später verabschiedet sich der Sänger mit einer kräftigen Umarmung von mir.
Ich befinde, dass ich nun wieder über genügend Contenance für eine Fortsetzung des erzwungenen Familienkaffees verfüge und mache mich auf den Rückweg in die unglaubliche Enge einer weitläufigen Wohnung. Ohne einen handfesten Nutzen in Form gekaufter Ware für meinen Ausflug vorweisen zu können werde ich gefragt, was ich bloß die ganze Zeit getan habe. Meine Auskunft, ich hätte mit einem russischen Straßenmusikanten Kakao getrunken wird kurz als offensichtlicher Scherz belacht und dann beiseite gelegt für die wirklich wichtige Frage, was ich mir denn nun zum Geburtstag wünsche. Nichts, was ihr mir geben könntet, lautet meine wahrheitsgemäße Antwort.