Morgen ist die große Party. Natürlich ist alles noch sehr geheim, fest steht nur, dass dies den krönenden Abschluss bilden wird:
Ansonsten bin ich gerade ein wenig erschöpft.
Heute vor zig Jahren:
Wir gucken uns nochmal genau den Stadtplan an und welche Häuser in Frage kommen dass Illy da wohnen könnte, eigentlich sind es nur drei. Also gehen wir in eine Telefonzelle und rufen die drei Nummern an und jetzt haben wir sie.
Langsam verdichten sich die Angstzustände, mich irgendwo übers Jahr verzählt zu haben und am 1. November dazustehen und es sind keine 365 Tage um. Und dann geht die Suche los...
Das mit der Numerierung war eine ziemlich schlechte Idee.
Heute vor zig Jahren:
Nichts besonderes.
Es gibt auf dem Schulweg neuerdings einen Hundeautomaten. Der Hudeautomat ist ein Kaugummiautomat, der anstelle von Kaugummis kleine Hunde in einer Plastikkapsel enthält.
Vorgestern kam uns der erste Hund ins Haus - Mademoiselle hatte ihn auf dem Heimweg von der Schule vom Restfrühstücksgeld (in der Schule gibt es jetzt einen Kiosk, der Frühstück verkauft - einer der wenigen guten Aspekte der nervigen Gesundes-Frühstück/Zuckerfreier-Vormittag-Bevormundungsaktionen der Grundschule. Am Kiosk gibt es interessanterweise u.a. Brote mit Putenwurst, Brote mit Geflügelwurst, Brote mit Aufschnitt (Geflügel) und Brote mit Wurst, Sternchen an Wurst und "Aus Rücksicht unserer muslimischen Mitmenschen bieten wir nur Geflügelwurst an", vielen Dank für die Rücksichtnahme an die "muslimischen Mitmenschen". Nein, ich habe das nicht thematisiert. Ich kann durchaus mal den Mund halten und wenn jemand Frühstück verkauft und sich gleichzeitig um den Genitiv bemüht wollen wir mal mit Grammatik und Logik nicht so sein) gekauft.
Wo waren wir, Hunde, Hundewurst gibt es nicht, aber es war Geld übrig und davon kaufte Mademoiselle einen Hund. Ich wusste davon nichts. Gestern dann meldete sie, sie würde mit dem Mittwochskind mal kurz zum Kaugummiautomaten gehen. Sie kehrten mit 10 Hunden zurück. Heute fragte das Kind nach dem Einkauf, ob wir beim Hundeautomaten vorbeilaufen könnten:
Frau N: Was wollen wir denn da?
Mademoiselle: Vielleicht einen Hund kaufen?
Frau N: Haben wir nicht schon ausreichend Hunde?
Mademoiselle: Ich möchte, dass Du das mal siehst.
Vor dem Hundeautomaten:
Frau N: Aha. Ja, nett, oder?
Mademoiselle: Können wir einen Hund kaufen? Oder drei?
Frau N: Warum denn einen oder drei?
Mademoiselle: Lieber drei.
Frau N: Aber wozu denn, wie viele Hunde brauchst Du denn noch?
Mademoiselle: Eigentlich möchten wir ALLE Hunde befreien. Ginge das?
Frau N: Wer ist denn wir??
Mademoiselle: Ich und meine Hunde!
Ich bat mir aus, darüber zu schlafen. Seitdem rechne ich, wie viele Plastikkapselhunde wohl in dem Automaten sein mögen - halb leer ist er immerhin schon. In den finanziellen Ruin stürzen würde der Hundekauf uns nicht, ist aber andererseits natürlich überhaupt nicht sinnvoll. Jedoch: wer kann schon von sich behaupten, alle Hunde aus einem Kaugummiautomaten gerettet zu haben? Ich gebe zu: ein wenig reizt mich der Gedanke.
Heute vor zig Jahren:
Streit mit Pe, ich habe echt keinen Bock mehr, dauernd nur mit ihr irgendwas zu machen und finde, wir sollten mal wieder neue Leute kennenlernen und dazu ist die Altstadt eben der beste Ort. Ich finde ich die Altstadt nämlich genial. Wenn man so ne geile Altstadt hat, muss man doch auch hingehen, sonst ist man doch schon blöd. Da hängt man im Park rum wo man in der Stadt so gut Leute beobachten könnte. Pe will da nicht hin wegen Illy aber ich lasse mich doch nicht von einer hysterischen Skin-Tusse tyrannisieren. Die macht auch sowiso nichts. Ich will jedenfalls wieder mit Pe in die Altstadt, weil man da noch am ehesten Leute trifft, im Park und am Bahnhof sind ja nur Gestalten. Wenn wir die Illy treffen sagt sie halt, wir sollen „mal schnell gehen“ und von mir aus können wir das dann ja machen, ich habe Pe auch versprochen dann keine Bockigkeitsanfälle zu haben, wobei wir sehr gerne von mir aus auch dann NICHT gehen können, die kann ja gehen.
Auf dem Weg zum Büro gibt es einen Gemüsehändler, der es wirklich drauf hat. Ja, tatsächlich, ich habe einen Gemüsehändler neben dem Gemüsemann. Zum einen reicht die Kiste manchmal nicht für eine Woche, zum anderen vergesse ich manchmal, etwas für die Pause mitzunehmen und drittens sieht es bei dem Büroweggemüsehändler immer so lecker aus. Und< er hat es drauf, was man daran merkt, dass er auf den Wunsch "5 Feigen bitte" erst einmal "wann essen?" fragt. Und wenn man "3 heute, 2 morgen" antwortet, sucht er genau die passend reifen Früchte heraus, legt die einen in Papiermanschetten und die anderen nicht oder legt eine Serviette als Trennlinie zwischen die für heute und die für morgen oder sonst irgendwie was, damit man auch bloß nicht in der falschen Reihenfolge isst. Ich weiß das sehr zu schätzen, Obst sollte immer genau richtig reif sein.
Übrigens haben derzeit die griechischen Feigen Saison. Die finde ich besonders lecker.
Heute vor zig Jahren:
Nichts besonderes, außer dass Pe und ich versehentlich und ohne das abgesprochen zu haben ganz genau gleich angezogen in der Schule erscheinen.
Tagesanfang heute: ich mache Mademoiselle eine Frisur. Das ist schwierig, mit einer Hand muss man bürsten, mit der anderen Mademoiselle festhalten, damit sie nicht davonhuscht. Das Haargummi klemme ich mir aus diesem Grund beim Bürsten zwischen die Zähne - es muss sofort greifbar sein, sonst ist das Kind weg, es ist aber auch keine Hand frei. Das Haargummi hinterlässt einen sehr penetrant-fremden Geschmack an meinen Zähnen. "Was ist das eigentlich für ein Haargummi, das schmeckt total fies!", sage ich. "Das hab ich neulich in der Turnhalle auf dem Boden gefunden", sagt mein Kind.
Unschön.
Heute vor zig Jahren:
Wir waren Trödeln und haben ganz schön viel Geld eingenommen. Pe2 kam und hat total viel erzählt. Sie hängt jetzt öfters mit dem Oh rum und man hört es ihr an. Am See und so und sie kann uns auch was besorgen, aber psssst.
Nachmittags kam Pe noch.
Eine Schatzuche/Schnitzeljagd für 11 Kinder zwischen 6 und 11 Jahren zu entwickeln, bei der sich die Älteren nicht langweilen, aber die Jüngeren nicht auf der Strecke bleiben, ist eine Herausforderung. Die Herangehensweise erinnert ein bisschen an Binnendifferenzierung im Schulunterricht und so scheint es, als würde sich tatsächlich für alles, was man mal gelernt hat, im Leben noch eine Anwendungsmöglichkeit finden. Die Planung umfasst gut vier Seiten und es wird mit verteilten Infos und verschiedenen Schlüsselbünden gearbeitet, die es erfordern, an zentralen Punkten eine geschlossene Gruppe zu sein. Gleichzeitig sollte die Tour so liegen, dass den Erwachsenen ausreichend Zeit bleibt, die Winkelgasse in ein düsteres Arbeitszimmer und anschließend in den Honigtopf zu verwandeln (Bettlaken zum Abdecken diverser Zimmerecken hilfreich) sowie den Unterrichtsraum "Zaubertränke" in die "Große Halle" samt Abendessen umzudekorieren.
Ich bin sehr gespannt.
Heute vor zig Jahren:
Bei uns machen wir Salat. Um 21 Uhr fahren wir zum HBF. Da sind wir rumgerannt und haben zu allem Unglück noch die nervige Diana aus unserer Klasse getroffen, worauf wir das rumrennen einstellten, um sie nicht nochmal zu treffen. In Sachen Illy: Wir kaufen einen Stadtplan, holen aus einer Telefonzelle ein Telefonbuch und wir haben eine Info über die Schulbezirke, die wir aus dem Sekretariat haben. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie man ihren Nachnamen schreibt. Trotzdem, wer weiß wozu man das mal braucht. Man kann nie genug über seine Feinde wissen. Auf dem Bahnsteig meditieren wir, vom Nebenbahnsteig tönten die Hosen. Am S-Bahnhof sind plötzlich Neonazisprüche gesprüht, also holen wir unsere schwarzen Sprühdosen und übersprühen das alles bis man es nicht mehr lesen kann. Dann gehen wir nach Hause und finden wir haben uns eine Mitternachtsmahlzeit verdient.
Es ist ganz komisch ohne Haustier. Ein bisschen befreiend und ein bisschen leer, vermutlich ist es ähnlich, wenn das Kind mal auszieht.
Wie der Tag ansonsten herumging, kann ich gar nicht sagen. sie würden mich ja für völlig verrückt halten, wenn ich sagte, dass wir ununterbrochen Zaubertrankrezepte bearbeitet und Schachteln für Bertie Botts Bohnen gebastelt haben.
Kommen wir zum Wetter: kalt ist es hier noch immer nicht. Wo ist denn dieser Temperatursturz, von dem alle reden? Als ich abends mit T-Shirt und Sandalen auf dem Rad unterwegs war merkte ich aber doch diesen gewissen scharfen Unterton des lauen Sommerwindes. Was ich in diesem Zusammenhang gerne noch wüsste: seit wann machen wir eigentlich so ein Gedöns um "meteorologische Jahreszeiten"? Ist die Sache mit dem Sonnenstand nicht viel besser? Mir geht das auf die Nerven und ich will das nicht mehr hören, es ist total redundant wenn doch der meteorologische Herbst immer am 1.9. anfängt, ständig zu sagen, dass heute, am 1.9., Überraschung, der meteorologische Herbst anfängt, weil der 1.9. ist. Bla. Mit sowas kann man mich ärgern.
Heute vor zig Jahren:
Ich habe Pe2 angerufen, sie will mal mit uns reden. Sie geht nicht mehr in die Altstadt, dafür ist Illy jetzt bei ihr auf der Schule, aber sie hat kaum noch mit ihr zu tun -> findet sie scheiße.
Abends sind wir in den Park gefahren und zuerst waren wir am Spielplatz, auf dem wir immer sind, wenn wir blau machen und haben uns auf der Platte da gedreht. Irgendwann sind wir dann zur Holzburg gegangen, woraus Onkelz-Krach ertönte und auf einmal drei Prolls herauskamen und fragten, ob wir nicht mitfeiern wollten. Sie hätten alles zum Rauchen und Trinken da. Unter der Bedingung, dass sie die peinliche Musik ausmachen, sind wir mitgegangen. Um ca. 10 Uhr wollten sie in ne Kneipe und uns mitnehmen, aber in der Öffentlichkeit wollten wir dann doch nicht mit denen gesehen werden, also gingen wir zum Bahnsteig und fuhren nach Hause.

Heute vor zig Jahren:
Nix besonderes.
Ich gebe zu, ich werde von dieser Geburtstagspartysache etwas mitgerissen. Die Kollegen sagen mir schon ins Gesicht, ich sei total bekloppt, manche sagen allerdings auch, sie seien neidisch und manche sagen beides. Die Kollegen habe ich informiert, weil ich dringend und schnell eine große Anzahl an chinesischen Ess-Stäbchen brauchte. Als Zauberstäbe natürlich, das ist ja klar. Es ist in meinem kleinen Büro möglich, innerhalb von zwei Werktagen über 30 Paar Ess-Stäbchen zu erhalten. Die Leute sammeln die. Heute habe ich auch eine große Schale mit Sojasoßenfischchen entdeckt - die brauche ich im Moment nicht, aber wer weiß, wofür es mal gut ist.
Zu Hause habe ich mit Mademoiselle einige Zutaten für Zaubertränke abgefüllt und etikettiert und ausprobiert, was man mit Graupen und Lebensmittelfarbe alles machen kann. Das ist ganz wunderbar. Dann haben wir noch schwarze Schulhefte mit einem selbstgebastelten Hogwarts-Label versehen und Verpackungen für Bertie Botts Bohnen gebastelt. Die Süßigkeitenlieferung kommt morgen. Achso, in diesem Zusammenhang eine Frage an das geschätzte gute Urteilsvermögen der Leserschaft: wenn ihr (vorgestelltes) Kind irgendwo wäre und dort gäbe es Lollies mit Heuschrecken drin, gäbe es da richtig Stress oder wäre das okay? Ich traue mir kein Urteil zu, bin ich doch mit älteren Geschwistern aufgewachsen und musste im Vorschulalter, damit der für mich aufgrund der Höhe unerreichbare Klingelknopf gedrückt wurde, wenn ich aufs Klo musste, standardmäßig nicht nur lateinische unregelmäßige Verben konjugieren oder den kompletten Namen von Hadschi Halef Omar aufsagen, sondern auch mal alles, was sich an Insekten auf einem Spielplatz so findet, verspeisen. Also: Insekten völlig wurscht, oder lieber einen Elternbrief (mein Kind darf Insekten ja/nein, mein Kind darf Schweinefleisch ja/nein, mein Kind darf Milchprodukte ja/nein, mein Kind darf Industriezucker ja/nein) lassen (wobei Mademoiselle die dann alle alleine essen wird...)?
Heute vor zig Jahren:
Nix besonderes.
Die Tagebücher von Victor Klemperer habe ich durch Zufall entdeckt. Ich lese gerne Tagebücher und Briefe, wenig erstaunlich, schließlich lese ich ja auch gern Blogs. Tagebuch geschrieben hat Herr Klemperer von 1918 bis 1959, aber ich habe - Zufall eben - mit dem Schuber 1933 bis 1944 begonnen, Drittes Reich also.
Mit dem Dritten Reich und mir war es immer schwierig. Natürlich habe ich "alles" darüber in der Schule gelernt, die nach den Geschwistern Scholl benannt war, so dass das Thema keinesfalls unter den Tisch gefallen ist. Auch in meiner Verwandtschaft war Krieg und Drittes Reich oft Thema - ein Opa und ein Onkel waren in russischer Kriegsgefangenschaft, mein Vater ist weißer Jahrgang, meine Mutter Großstadt-Kriegskind. Also: das Wissen ist da, das Wissen über die großen Zusammenhänge, die im Nachhinein betrachteten politischen Handlungsstränge. Was nicht da war, war das Verstehen. Ich glaube, etwas so grauenhaftes wie den Holocaust kann man gar nicht verstehen, dafür fehlt mir zum Glück der Erfahrungshorizont. Im Gegensatz dazu kann ich aber z.B. verstehen, wie es ist, seine Katze einschläfern lassen zu müssen. Und so kommen wir zurück zu den Tagebüchern.
Professor Victor Klemperer ist Philologe und jüdischer Abstammung (das schreibe ich so kompliziert, weil er eigentlich Protestant ist, aber seine Mutter eben nicht, daher gilt er im Dritten Reich als Jude), und er beschreibt in seinen Tagebüchern seinen Alltag. Er schreibt über seine Frau, das Essen, die Reinigung des Katzenklos, lästert über die Nachbarn, klagt über Krankheiten und erzählt von den Büchern, die er liest. Es ist eigentlich ganz banal, aber wie sich diese alltäglichen Banalitäten unter der historischen Entwicklung verändern ist das ganz große Ding. Aus heutiger Sicht wissen wir, wie es ausgeht, sowohl mit dem Krieg also auch mit Herrn Klemperer, und trotzdem ist man als Leser furchtbar aufgeregt und möchte ihm immer wieder zurufen, dass er doch jetzt endlich gehen soll, flüchten, egal wohin, während er zaudert und nicht will, wegen der Katzen, wegen dem gerade gebauten Haus, wegen des Berufs, bis ihm dann Katzen, Haus und Beruf genommen sind und er nicht mehr wegkann, selbst wenn er wollte.
Gespräch mit Stühler senior: "Ich will Zeugnis ablegen." - "Was Sie schreiben, ist alles bekannt, und die großen Sachen, Kiew, Minsk etc., kennen Sie nicht." - "Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche..." Stühler, eine Weile später: "Ich habe mal gelesen, die Angst vor einer Sache ist immer schlimmer als das Ereignis selber. Wie sehr graute mir vor der Haussuchung. Und als die Gestapo kam, war ich ganz kalt und trotzig. Und wie uns das Essen hinterher geschmeckt hat! All die guten Sachen, die wir versteckt und die sie nicht gefunden hatten." - "Sehen Sie, das notiere ich!"
(Victor Klemperer - Tagebücher 1944)
Er hat das ganz richtig gemacht. Lesen Sie das.
Heute vor zig Jahren:
Nichts besonderes.