Heute feierten wir mit Papa N seinen 87. Geburstag. Auf seinen Wunsch hin einem thailändischen Restaurant. Nicht auf seinen Wunsch hin – aber auch nicht dagegen, eher unabgesprochen – luden wir auch seinen Freund Willi ein, mit dem er sich seit 67 Jahren ununterbrochen streitet. Über alles. Früher über Frauen, Alkohol und Autos, heute über Rollatoren und wer noch weniger vom Essen geschafft hat als der andere. Papa N kennt mehrere Willis, wenn er von Willis spricht, muss man immer nachfragen welcher. Dieser Willi wird mit dem Beinamen „der Arsch“ geführt.
Willi war jedenfalls auch da und die beiden Herren stritten sich vortrefflich, umarmten sich zwischendurch, stritten beim Abschied, wer mit dem anrufen dran sei. Willis Sohn, meine Schwester und ich machten hinter ihren Rücken Zeichensprache, das nächste Treffen ist natürlich schon längst abgesprochen.
Am späteren Nachmittag saßen wir zu Hause noch mit einem anderen Freund, nicht ganz so alt und körperlich fit aber leider in einer mittleren Stufe der Demenz und der Nachbarin, hochbetagt. Der Freund und Papa N haben ein Ritual, irgendwann im Gespräch sagt der eine „So ist das Leben“ und der andere antwortet darauf „Man stirbt“ und dann sagt der erste wieder „Doch ihr kennt nicht den Tag noch die Stunde!“ An einem Nachmittag im schnitt 8-10 Mal. Heute verweigerte sich Papa N – aus unbekannten Gründen – diesem Ablauf und antwortete auf „So ist das Leben“ völlig überraschend Dinge wie „Und is doch jut so!“ oder „Darauf ein Bier!“ Als wir mit Kuchen am Küchentisch saßen, war er aber derjenige, der das Ritual begann und es entspann sich folgendes Gespräch:
Papa N: So is dat Leben!
Freund W: Man stirbt!
Papa N: Dat is mir aber ejal, da mach ich mir keinen Kopp drum. Ich bin dann ja wech.
Freund W: Glaubst du nicht, dass dann noch was kommt?
Nachbarin: Na wenn nicht, dann wäre der ganze Glaube ja umsonst!
Papa N: Umsonst ist der eh nicht, wir bezahlen ja Kirchensteuer.
Nachbarin: Also ich glaub schon, dass ich meinen Mann dann nochmal wiedersehe – also außer es ist da ganz voll, dann findet man sich nicht.
Darauf gab es dann noch ein Bier.
Die tägliche Contentvorschlagliste fragt heute: „Welchen Gedanken haben Sie über sich selbst immer wieder obwohl Sie wissen, das er falsch ist?“
Ich habe so einige Gedanken immer wieder, obwohl sich längst gezeigt hat, dass sie falsch sind. Beharrlich sage ich z.B. am Arbeitsplatz immer wieder „Die nächste Woche wird ruhiger“, neulich habe ich nachvollzogen, dass ich das seit 2005 sage. Es ist nie eingetreten.
Das hat natürlich nur mittelbar mit mir zu tun. Über mich selbst habe ich auch einige Annahmen, die sich hartnäckig halten, obwohl sie nicht zutreffen. Bis vor sehr kurzen, also bis zur Pandemie ungefähr, dachte ich, ich sei eine Person, die viel Zeit mit sich allein benötigt, um eine innere Stabilität zu bewahren. Das Gegenteil ist der Fall. Ich brauche permanent andere, um mich an den Begrenzungen, die sie mir bieten, immer wieder neu abzugleichen und auszurichten. Wenn niemand um mich herum ist bin ich nach einer nur mittleren Zeitspanne innerlich komplett orientierungslos. Das war mir bis 2020 wirklich nicht bekannt.
Was ich noch heute immer denke ist, dass ich den nächsten Tag wirklich ganz strukturiert erleben werde. Ich habe abends schon eine Idee, was ich am nächsten Tag frühstücken möchte und packe ein Buch für die Mittagspause ein, ich habe eine kleine Liste an zentralen Tätigkeiten im Kopf und das Bild vor Augen, dass ich den Tag quasi Stunde für Stunde bewusst und kontrolliert erlebe. Jeden Abend denke ich das. Es geschieht nie, absolut nie. Spätestens ab 11 Uhr (wochentags, am Wochenende später) bin ich von irgendwas so mitgerissen, dass ich alles andere vergesse, irgendwann esse ich hastig was und irgendwann denke ich „jetzt muss ich aber WIRKLICH nach Hause gehen“ und dann sitze ich im Sessel und frage mich, was um alles in der Welt das jetzt wieder war. Am Wochenende schlafe ich länger, setze mich dann sofort in den Sessel und überlege mir, was ich schönes machen möchte, fange mit irgendwas an und derselbe Ablauf entspinnt sich, nur zeitverzögert. Jeder einzelne Tag scheint mich nach ca. 4 Stunden Wachzeit aufzusaugen und mitzureißen, ich nehme grob Blöcke von 3 bis 4 Stunden wahr, kleinere Zeitabschnitte eher nicht.
Bei den übrigen Dingen, die ich über mich denke, habe ich noch nicht bemerkt, dass sie fehlerhaft sind.
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