Eigentlich wäre es besser, wenn jetzt genau in diesem Moment Weihnachten wäre. Der Baum steht schon bzw. in Anbetracht der Katzenaktivitäten noch, die Geschenke sind verpackt, der Kühlschrank ist voll, die Wäsche gemacht und die Wohnung aufgeräumt. Ab diesem Punkt kann sich der Gesamtzustand nur noch verschlechtern.
Heute vor zig Jahren:
Ich warte bis 14 Uhr auf Tanja, die mir um 13 Uhr was vorbeibringen wollte. Dann gehe ich in die Badewanne. Um 14:05 kommt sie. Ich gebe ihr das Geld und sie erzählt von einer guten Kneipe, die ich mir mal aufschreibe. Dann gehe ich mit Pe, die mich abholt zu ihr und wir gucken Fernsehen. Dann geht Pe Babysitten und ich nach Hause. Ich lese und spiele mit der Ratte.
Hallo Migräne,
Du bist einen Tag zu früh, heute geht es leider nicht. Heute muss ich mich mit Bäckereiverkäuferinnen streiten und mit Polizisten, gleich zweimal, und mit Senioren und Bahnfahrern und Abschleppwagenfahrern. Und jetzt gehe ich zu einer Weihnachtsfeier.
Friede auf Erden den Menschen und so.
Bis morgen. Vielleicht.
Deine Frau N.
Heute vor zig Jahren:
Ich schwänze Schule (2. Stunde Musik) und hole Pe um 11:30 an der Mauer im Park ab. Dann fahren wir zum CD-Verleih, um Pes Poster zu holen. Zuerst fahren wir zu dem auf der Bismarckstraße, wo wir aber nur jeder eine Batmobile Postkarte kaufen. In dem anderen holt Pe dann ein Cure-Poster. Dann fahren wir zu Pe und ich gehe eine Stunde später nach Hause, wo meine Eltern mir ein merkwürdiges Obst zu Essen geben, Litschi. Um 15 Uhr gehe ich wieder zu Pe und um 17 Uhr ist sie fertig. Dann gehen wir zu mir und machen den Rattenkäfig sauber. Danach kaufen wir Suppe und fahren in die Altstadt. Da setzten wir uns erstmal an die Straßenbahnhaltestelle und beobachten Leute. Als Nicole-mit-Betonung-auf-dem-i und ihre Freundin vorbeikommen, verstecken wir uns. Wir bekommen Hunger aber wir haben ja kein Geld, beschließen aber, dass es noch für Gummitiere an der Tankstelle reicht und gehen dahin. Als wir die Gummitiere gegessen haben, sind wir aber noch immer nicht satt und beschließen, dass es auch noch für Pommes reicht. Die holen wir und gehen dann zur U-Bahn. Vor der Haltestelle stehen ein paar Skins rum, so dass wir einen Bogen gehen zur anderen Haltestelle, die ist aber gesperrt, also gehen wir wieder zurück und Sunny springt uns entgegen und begrüßt uns. Da sind noch zwei, die wir vom Sehen kennen und einer, der glaube ich mal im Spanischunterricht war, damals sah er aber ganz normal aus. Wir versuchten, Sunny abzuschütteln aber er laberte uns zu über einen Skin namens Z, der der gefährlichste überhaupt sei und ein Exfreund von Illy wäre. Eine Minute später war „Z“ auch schon anwesend und hatte noch zwei Freunde mitgebracht, eine Glatze namens H. und einen Sonderbaren. Wir wollten uns nun langsam mal von diesen Gestalten absetzen, aber Z bestand darauf, dass er uns ein Bier ausgibt, und Sunny meinte, es wäre gefährlich, das abzulehnen, also tranken wir ein Bier mit ihm. Dann kam Anja aus unserer Klasse zufällig vorbei und hatte den gleichen Regenschirm wie der Seltsame dabei und ein rotes, englisches Buch über Kommunismus in der Hand. Z interessierte sich enorm erst für den Regenschirm und dann für das Buch und begann, es uns Satz für Satz vorzulesen und zu übersetzen und das Übersetzte zu interpretieren und mit seinen Erfahrungen zu vergleichen. Darüber machten wir uns ein bisschen lustig worauf er meinte, dass er schon 18 wäre und schon „alles“ gesehen hätte, deshalb würde er auch nicht mit Aufnähern auf der Jacke rumlaufen, weil er das gemein findet, und müsste sowieso nicht so betont skinmäßig rumlaufen denn jeder wüsste sowieso wer er ist. Er trug eine grüne Bomberjacke ohne irgendwelche Aufnäher, die ziemlich groß war, ein Endstufe T-Shirt, flache und ziemlich zertretene und ungeputzte Docs mit schwarzen Schnürsenkeln, eine blaue Jeans und hatte blonde kurze Haare. Im Gegensatz dazu sah H. sehr auffällig aus mit zig Aufnähern auf der Jacke, einem bordeauxfarbenen Lonsdale, blauen Jeans die er in die Stiefel gesteckt hatte (rote 16er mit weißen Schnürsenkeln), und Z meinte, der H hätte das halt nötig. Jetzt hätten wir eigentlich langsam gehen können aber Anja wollte ihr Buch zurückhaben und wir sie nicht allein mit denen lassen und außerdem waren wir auch neugierig, wie diese Begegnung weiter laufen würde. Also nahmen wir von Z noch ein Bier und darauf meinte er, er müsste sich jetzt erstmal setzen weil er es so unglaublich findet, dass wir einfach mit ihm Bier auf der Straße trinken anstatt Angst vor ihm zu haben und weil er es auch unglaublich findet, dass er uns noch gar nicht kannte und am allerunglaublichsten, dass wir ihn nicht kannten und auch noch nie irgendwas von ihm gehört hatten. Wir fragten ihn noch ein bisschen aus um herauszufinden, ob er wirklich so gefährlich ist und wie er so drauf ist, und er erzählte vom Frenzy-Konzert, dass der Schlüsseldienst-Oberskin gerade im Krankenhaus ist und nächste Woche zum Bund muss, dass er mit Illy zusammen war (wussten wir ja schon von Sunny aber taten unwissend) und dass ihm das total leid tut, weil Illy und ihre Freundinnen totale Schlampen sind (hatten wir uns schon selbst gedacht), dass er die ganzen Glatzen hasst, sie sich so aufspielen und auf der Straße rumpöbeln, dass er Sunny lächerlich findet, weil der ihm immer alles nachsagt, dass er Ah nicht persönlich kennt aber von ihm gehört hat, dass er ein ziemlicher Schisser ist, dass Z selbst gern mal „gepflegt säuft“ aber ein kluges Kerlchen ist und im Frühling Abitur macht. Dann gingen ihm die anderen auf die Nerven und er sagte, sie sollten jetzt alle weg gehen, woanders hin, hier wäre jetzt er. Sie machten das auch und dann lud er uns zu McDonald’s ein und dann gingen wir nach Hause.
Fazit: So, wie wir uns eigentlich aus Feindschaftsgründen mit Illy in der Stadt nicht sehen lassen konnten, können wir jetzt aus „Freundschaftsgründen“ nicht mehr hin. Die Begegnung mit Z war uns irgendwie nicht geheuer und wir werden versuchen, ihm nicht nochmal über den Weg zu laufen.
Im Gang voller Wartenden vor den vier Aufzügen im Rapunzelturm einfach mal ganz laut "5 Euro auf den hinten links!" gerufen. Klassische Übersprungshandlung. Das hätte ein ganz großer Spaß werden können, aber die Leute waren zu langsam, bis irgendwer den offenen Mund wieder zugeklappt hatte, war der Aufzug längst da und ich hatte mich derweil schon ein kleines Wettbüro dort aufschlagen sehen, mit Bauchladen, war von Bauchladenwettbüro über Bauchladen generell (wo sieht man die noch? Im Kino beim Eisverkauf?!) zu mobilen Hotdogverkäufern und Personen mit Bierrucksack abgewandert und dann irgendwie zu Schuhputzern gekommen, sieht man ja auch nicht mehr, dafür sind an den meisten Rolltreppen an Bahnhöfen diese Borstenpuschel, an denen man sich unempfindliches Schuhwerk mal etwas aufpolieren kann, ist sehr praktisch. Nur, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte. Im Büro habe ich aber natürlich auch Schuhputzzeug. Und eine Kleiderbürste. Und Feinstrumpfhosen, Ersatzschuhe, Kleidung, eigentlich alles, ich könnte im Pyjama ins Büro gehen und erst dort den Rest erledigen, das wäre kein Problem. Tatsächlich war ich vor ein paar Tagen mit gleich drei Pyjamas im Büro und habe diese auch dort anprobiert. Waren alle sehr bequem und es fiel mir schwer, nicht im Pyjama gleich auf die Liege ein paar Räume weiter zu fallen, sondern wieder in die andere Kleidung zurückzuwechseln.
Nunja. Den einen Tag bringe ich jetzt sicher auch noch ohne größere Ausfälle rum.
Heute vor zig Jahren:
Um 15:45 Uhr ist Klassentreffen von der Grundschule. Vorher hole ich noch Fotos ab. Dann treffen ich mich mit Anja und Tanja und dann kommt Pe mit den drei Markussen und E. Wir kaufen Blumen für Frau K. und Süßigkeiten für die Fahrt und fahren dann mit dem Bus hin. Alle sahen wie immer aus, der einer der Markusse nicht, der sah aus wie ein Fußgängerzonen-Penner-Punk. Es war ganz lustig und Frau K. hatte sich nicht verändert. Mitten im Klassentreffen sagte Tanja plötzlich, sie hätte was zum Rauchen dabei. Es ergab sich aber keine Gelegenheit. Hinterher gingen wir noch in ein Bistro was trinken. Sonst nichts.
Da habe ich einmal alle Weihnachtsgeschenke schon über eine Woche vorher gekauft und verpackt, und heute ruft Papa N. an und sagt: "Ach, deine Eltern sind alte Leute, geh Du Dir selbst was kaufen. Aber sieh zu, dass es pünktlich da ist!"
Mannmannmann.
Heute vor zig Jahren:
Pe holt mich ab und ich habe Klavierstunde, habe aber immer noch keine Lust und mache nochmal die Sache mit dem Verband und den Plätzchen. Danach gehen wir einkaufen. Dann malt Pe total motiviert an einem Bild für Kunst, während ich für uns zwei verschiedene Aufsätze zu Don Carlos schreibe (10. Auftritt – König: „Wem hab ich gesammelt?“ – Großinquisitor: „Der Verwesung lieber als der Freiheit!“, Interpretation)
Nach dem Osterdesaster mit mehreren Zentimetern Wasser auf dem Parkett reagiere ich empfindlich, wenn ich beim abendlichen Nach-Hause-Kommen den Notdienstwagen des Rohrreinigungsunternehmens W. vor meiner Haustür zu sehen. Es war aber eine andere Wohnung, in einem anderen Stockwerk und auf der anderen Seite des Hauses. Ich freue mich nicht über Rohrprobleme bei den Nachbarn. Aber ich freue mich, keine eigenen Rohrprobleme zu haben. Hurra!!! Das hätte diese Woche auch wirklich nicht mehr gut reingepasst.
Heute vor zig Jahren:
Ich werde bei der Lateinarbeit rausgeworfen, ist aber egal weil ich sowieso schon fertig war und nur vor Langeweile immer rumgeguckt habe. Ich glaube, ich habe alles richtig. Nachmittags habe ich Geigen aber ich habe absolut keine Lust, deshalb wickele ich mir einen Verband um die Hand und nehme Plätzchen mit und wir machen nur Theorie. Abends Fechten macht Spaß.
Endspurt über eine Woche mit noch 7 Personalgesprächen, Gehaltsabrechnung, Budgetplanung, einem Chefgespräch, zweieinhalb Tagen Großelternbesuch, zwei Kindersportweihnachtsfeiern, einer Schulweihnachtsfeier, einer Erwachsenenweihnachtsfeier, einem Glühweintrinken, einem Pokalspiel, einem Übernachtungskind, einmal Kino, einmal Zirkus, einmal Großeinkauf. Wir schenken uns ja nix. Also – Geschenke schon. Aber sonst so.
Heute vor zig Jahren:
Wir üben Latein bis wir das ganze Buch durchhaben und alle Vokabeln können, also ist mit Latein jetzt bis Ende des Schuljahres Ruhe, nur bei ablativus absolutus müssen wir im Unterricht kurz aufpassen, das war im Buch nicht so gut erkärt und wir haben es noch nicht ganz verstanden. Ansonsten können wir in Latein jetzt schlafen.
Jetzt kommt noch eine sehr, sehr anstrengende Woche, und dann ist Weihnachten.
(Keine Pointe)
Heute vor zig Jahren:
Ah kommt nicht. Wir gehen zum Weihnachtsmarkt und in die Kaufhäuser, um Einkäufe zu machen. Danach gehen wir zu Pe und stellen ihren Kram da ab und dann zu mir. Abends fahren wir mit einer Flasche Wein vor eine Dicso, von der Pe2 uns erzählt hat, ist irgendwie eine ganz komische Atmosphäre, so, als würde irgendwas passieren. Wir finden diese Disco nicht und trauen uns nicht, die Gegend näher zu erkunden, weil wir uns dort überhaupt nicht auskennen. Es ist aber erst 19:30 Uhr und deshalb an der anderen Disco nichts los, also fahren wir in die Stadt und holen uns an der Tankstelle jeder ein Bier und Gummitiere, damit wollen wir uns auf den Rückweg zur Disco machen. Allerdings müssen wir erst mal aufs Klo und gehen daher zu McDonald’s, dann sitzen wir an der Bahn und trinken das Bier und Sunny kommt vorbei. Er sagt, er wartet auf einen Rob, der „so ein Glatzkopf“ ist. Sunny behauptet, er habe eine Flasche Wein und eine Flasche Sekt und eine Packung Aspirin geschluckt, also verabschieden wir uns von ihm weil er dann vermutlich bald tot sein wird, er erschreckt sich ein bisschen und sagt dann, es wäre eigentlich nur eine Kinder-Aspirin gewesen und wir sagen ihm er soll sowas lassen, das bringt auch gar nichts. Wie verabredet erscheint um 21 Uhr der Glatzkopf Rob und dann geschieht erst mal gar nichts, außer dass ein Umtrunk abgehalten wurde. Irgendwann kommt eine Straßenbahn, worin sich ein kleiner, tarnbemützter Junge befand. Als Sunny und Rob ihn sahen, flohen sie im den Block herum und sagten, wir hätten sie nicht gesehen. Nach einiger Zeit kamen sie in Begleitung des kleinen Jungens zurück. Er hieß Mario. Dann wurde weiter umgetrunken, man erfuhr, dass ein gutes Konzert im Nachbarort stattfindet und ärgerte sich, dass man nicht da ist. Es kamen noch ein paar uns unbekannte Leute und unterhielten sich mit Rob, als die wieder weg waren, beschlossen wir, in eine Kneipe zu gehen. Da kamen wir aber nicht herein und erfuhren, dass alle mit Stiefeln und irgendwo abrasierten Haaren Hausverbot haben, also gingen wir in eine andere Kneipe und trafen dort lauter Leute aus unserer Klasse. Kurz danach mussten wir aber aus der Kneipe schon wieder raus, weil es eine Ausweiskontrolle gab und wir ja noch nicht alle 16 waren und weil wir auch da sowieso Hausverbot haben, was wir aber ja nicht wussten. Wir gingen also woanders hin und probierten insgesamt noch fünf oder sechs Kneipen aus aber hatten überall Hausverbot, so dass wir zur Tankstelle gingen, dort holten wir uns Bier und fuhren aufs Parkhausdach. Rob meinte, wir sollten uns auch mal einen gefälschten Schülerausweis zulegen, damit wir besser in Kneipen reinkommen und zeigte uns seinen, dabei fiel uns auf, dass er genau am selben Tag Geburtstag hat wie ich, auch im selben Jahr, so dass wir fanden, wir wären ab sofort Zwillinge.
Rob zeigte uns noch Fotos von seiner Freundin, die aber keiner je gesehen hatte und die er aus der Szene raushält, wir erzählten von unserem Ärger mit Illy, die Rob auch kannte und als „Bündel der Lächerlichkeit“ bezeichnete, über wer auf welche Schule geht und dann tranken wir Brüderschaft und dann stand Illy plötzlich da mit zwei Freundinnen und fragte Rob, was er neuerdings für einen Umgang hätte und befahl, er solle uns stehenlassen und mit ihr und ihren Leuten was Trinken gehen. Rob sagte, er könne sich gerade noch beherrschen, außerdem sei ich seine Zwillingsschwester. Illy zog dann ab und wir unterhielten uns noch über unterschiedliche Techniken mit dem Langhaarschneider und Schnürsenkelmarken. Um Mitternacht gingen wir nach Hause und stellten erst da fest, dass wir total vergessen hatten, Adressen oder Telefonnummern auszutauschen.
Es ist gut, dass es bei meinem Klavier die Möglichkeit gibt, es stumm zu schalten und über Kopfhörer zu hören, denn sonst würden mich die Nachbarn jetzt hassen.
Nein, so ist das nicht gut, ich fange nochmal an:
Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich soeben ein jahrzehntealtes Trauma bewältigt habe.
Nein, so ist das auch nicht gut, ich fange nochmal an:
Einmal, vor vielen Jahren - ich war 10 oder 11 Jahre alt, sollte ich beim Weihnachtskonzert ein Stück auf dem Klavier vortragen und ich suchte "Tochter Zion" aus, weil es mir gut gefiel. Mein Klavierlehrer war dagegen; er fand es zu schwer. Nun könnte man als Klavierlehrer sicher irgendwo ein ganz simpel gesetztes "Tochter Zion" auffinden oder kurz selbst machen - mein Klavierlehrer entschied sich aber anders und zwar so, dass ich "Als ich bei meinen Schafen wacht'" spielen sollte. Das wollte ich aber auf keinen Fall, das fand ich ganz schrecklich. Wie genau sich die Verhandlungen im folgenden gestalteten, weiß ich nicht mehr. Ich war kein aufsässiges 10-jähriges Mädchen. Ich war eher ein bisschen schüchtern, oder vielleicht auch einfach ganz normal 10-jährig - nicht so, dass ich nicht mit Fremden/Erwachsenen/Klavierlehrern reden konnte, ohne zu stammeln, aber ich tat es einfach nicht gern. Aber noch weniger gern wollte ich "Als ich bei meinen Schafen wacht'" spielen, eigentlich wollte ich sowieso gar nichts vorspielen. Letztendlich sollte ich bis zur nächsten Unterrichtsstunde in Gottes Namen "Tocher Zion" üben, was ich tat, jeden Tag sehr gründlich, und ich konnte es dann auch schon recht gut.
In der nächsten Unterrichtsstunde spielte ich es dem Lehrer vor, er war recht zufrieden und fing mit der Feinarbeit an. Und dann strich er in einem Takt ein paar Noten weg, die wären für mich zu viel, da würde ich mich sonst beim Konzert verspielen. Ich hatte diese Stelle vorher fehlerfrei drauf gehabt. Ab dem Moment, in dem er die Noten weggestrichen hatte, war ich dort unsicher.
Sie wissen jetzt, was kommt, aus heutiger Sicht wüsste ich es auch, dass der Klavierlehrer es wusste, möchte ich ihm nicht unterstellen - ich jedenfalls wusste es damals nicht: beim Weihnachtskonzert verhaspelte ich natürlich genau an dieser Stelle, genau gesagt aus Respekt vor den weggestrichenen Noten schon einen Takt vorher, und ich verspielte mich noch nichtmals einfach so, in dem Sinne, dass ich schlicht falsche Tasten nahm oder ganz rauskam, sondern meine Finger taten merkwürdige Dinge und spielen plötzlich eine Art Triller vor Nervosität. Was ich - mit 10 Jahren - natürlich unendlich viel peinlicher fand, als mich normal zu verspielen. Verspielt hat sich fast jeder bei diesen Konzerten, aber niemand machte einfach eine komische Verzierung, die da nicht hingehörte. Ich wäre am liebesten im Erdboden versunken.
Man könnte nun meinen, ich hätte "Tochter Zion" seither vielleicht nie wieder gespielt. So ist es im Leben aber ja nicht. Tatsächlich habe ich es seitdem jedes Jahr gespielt, es gehört seitdem zum Standardweihnachtsgesangsrepertoire der Familie und ich begleite auf dem Klavier. Seit Jahrzehnten. Ich kann mich an keine Ausnahme erinnern. Gut, vielleicht 2004, da war Mademoiselle 3 Monate alt und heulte wegen den Kirchenglocken, der Querflöte, dem Gesang, dem Klavier - vielleicht haben 2004 ein reduziertes Programm gespielt, das mag sein. Aber auch ohne 2004 kommen wir auf locker 25 Jahre "Tochter Zion". Und ich habe diese zwei Takte nie wieder richtig gespielt. Was nicht daran liegt, dass sie schwierig wären. Das sind sie nicht:
Heute dachte ich, dass es vielleicht dieses Jahr an der Zeit wäre, "Tochter Zion" fehlerfrei zu spielen. Deshalb habe ich die beiden Takte nun ein paar Mal geübt - rechte Hand, linke Hand, zusammen, langsam, schnell. Es war keine große Kunst. Aber dann, wenn ich das ganze Stück von vorn bis hinten durchgespielt habe, verhaspelte ich mich wieder. Also musste ich es so oft spielen, bis es langweilig wurde, bis meine Gedanken ganz woanders waren, bis ich vergessen hatte, dass da in der Mitte die beiden speziellen Takte sitzen. Das hat etwa zwei Stunden gedauert. Klingt jetzt lang, aber für ein Trauma von 25 Jahren sind zwei Stunden doch eigentlich erstaunlich wenig.
Wir werden also dieses Jahr an Weihnachten "Tochter Zion" singen, ohne dass die Begleitung in zwei Takten in der Mitte plötzlich Verzierungen einbaut, versehentlich einhändig wird oder sich schlichtweg verhaut. Hosianna!
Heute vor zig Jahren:
Wir holen Ah gegen 17:00 Uhr ab und gehen er will unbedingt mit uns zu dieser komischen Jugendgruppe gehen, also tun wir ihm den Gefallen. Dort wird ein Film gezeigt. Der Streberjunge-G. labert uns zu. Hinterher will Ah zum Karl, wir wollen aber nicht, Ah sagt, er ist müde und hat ganz weiche Knie und ihm ist kalt, also bringen wir den armen Jungen nach Hause und verabreden uns für morgen, 1:00 Uhr, bei mir vor der Tür. Wir holen Pommes, gehen zur Bahn, verpassen die Bahn, gehen wieder zurück, holen eine Cola, verpassen die Bahn und kommen irgendwann zu Hause an.
Auf dem Heimweg weinende Mademoiselle, weil ein selbstgebastelter Wachsanhänger zerbrochen ist. Reparatur versprochen. Zu Hause rote Kerze zwecks Reparatur gesucht, Mademoiselle hat Hunger und wünscht sich Apfelpfannkuchen. Ei aus dem Kühlschrank geholt. Mademoiselle weint wegen Fußverletzung. Getröstet. Post geöffnet und große Aufregung, weil Mademoiselle beim Pokalspiel mit der Mannschaft einlaufen darf. Der Freund muss angerufen werden. Telefon und Nummer gesucht. Apfel gewaschen, Milch aus dem Kühlschrank genommen. Die Großeltern müssen angerufen werden. Sie wollen auch mich sprechen. Ich telefoniere und wundere mich, warum ein Ei in der Küche liegt, räume es wieder in den Kühlschrank. Mademoiselle weint, weil der reparierte Anhänger wieder zerbrochen ist, ich beende das Telefonat und entzünde Teelichter, um einen neuen Anhänger zu machen. Mademoiselle fragt, ob ich sie zu einem Weihnachtslied auf dem Klavier begleiten kann. Wir machen Weihnachtsmusik, die Katzen geraten in Panik. Ich erinnere mich an den Apfelpfannkuchen. Ich suche das Ei. Schlage Eiweiß auf. Schäle den Apfel. Das Büro ruft an, ich gehe nicht dran. Das Büro ruft auf dem anderen Telefon an, ich gehe nicht dran. Mademoiselle ruft, dass es Probleme mit dem Wachs gibt, ich sage, dass ich Pfannkuchen mache. Mademoiselle ruft, dass es leider vielleicht eine Riesensauerei gegeben hätte. Ich schaue nach, es ist nur eine mittlere Sauerei, wir beseitigen sie. Ich gehe in die Küche und wundere mich, wieso ich Eiweiß geschlagen habe, ich wollte doch gar keinen Kuchen backen. Ich beginne, einen Salat fürs Abendessen zu machen. Mademoiselle fragt nach dem Apfelpfannkuchen. Ich mache einen Pfannkuchen und finde den Apfel nicht mehr.
Irgendwie gelingt es mir doch, innerhalb von drei Stunden sowohl einen Apfelpfannkuchen zu machen als auch einen Wachsanhänger zu formen. Und den verschwundenen Apel habe ich im Bücherregal gefunden.
Vielleicht schlafe ich heute Nacht einfach einmal acht Stunden am Stück.
Heute vor zig Jahren:
Marco aus meiner Klasse sagt immer nur noch „Marius... Marius...". In Spanisch haben wir einen neuen Referendar, der Kuchen verspricht, für wenn wir bei der Lehrprobe gut mitmachen.
Ohne allzusehr auf die Metabene zu sprechen zu kommen - ich möche ja nie über die Metaebene sprechen, aus Prinzip nicht, da ich die Metaebene für unwichtig und unsinnig halte, genauso übrigens wie Prinzipien, neulich habe ich mich noch mit Frau Herzbruch kurz darüber ausgetauscht, dass alles situationsabhängig zu sehen ist und eben nicht prinzipiell, wie unsinnig wäre das denn (und wie einfach!) - was ich eigentlich sagen wollte, ist: es bereitet mir keinerlei Mühe, hier jeden Tag etwas zu posten. Aber seit zwei Wochen weiß ich, dass ich morgen drei Weihnachtskarten mit einem Spruch versehen haben muss, für eine Lehrerin und zwei Erzieherinnen, und das bekomme ich nicht hin. Bzw. natürlich bekomme ich es hin, irgendwann morgen früh zwischen 6 und halb 8, mit viel Zähneknirschen - was mich zu einer anderen meiner Lieblingstheorien bringt, oder doch eher zu zweien, nämlich erstens, dass man sich bei Dingen, über die man vermeintlich noch nachdenkt, meist schon entschieden hat, die Entscheidung lediglich im Bewusstsein noch nicht durchgedrungen ist und man sich, wenn man von einer Situation angstrengt ist - die Mühe machen kann, kurz in sich zu forschen, ob man sie nicht eventuell schon längst gelöst hat und also nicht mehr länger darüber nachdenken muss (so ist es bei mir mit den Weihnachtskarten, ich weiß, dass ich sie morgen um 7:30 Uhr geschrieben haben werde, ich muss also nicht weiter darüber nachdenken, ich habe mich entschieden und es wird geschehen, kein Grund zur Aufregung) und zweitens, dass man manchmal einfach noch nicht an dem Punkt ist, an dem man etwas machen kann, auch wenn andere an diesem Punkt schon längst wären, das ist okay so, ich bin z.B. noch nicht so weit, diese Weihnachtskarten JETZT zu schreiben, aber der Zeitpunkt wird kommen, irgendwann in den nächsten 8,5 Stunden. Auch hier kein Grund zur Aufregung.
So ist das alles.
Heute vor zig Jahren:
Nachmittags machten wir anstrengende Weihnachtseinkäufe und gehen mit dem Fotoapparat zu einem lustigen alten Mann in einer Hinterhofwerkstatt, der früher Feinmechaniker war und jetzt so allerlei macht. Er sagt, wenn wir später keine Arbeit finden, weil wir so komisch rumlaufen, könnten wir für ihn fegen und Kaffee kochen. Danach holen wir Pizza und essen sie bei mir und dann gehen wir zum Marius-Konzert, also nur vor die Halle, zum Leute-gucken.