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    Freitag, 4. Januar 2008
    Sekundenbruchteile

    Nach einem Tag, der morgens um Viertel nach 6 begann und für inhaltlich zwei bis drei Personen locker ausgereicht hätte, war ich um Mitternacht kurz davor, nach einer 10-minütigen Einbeinlandung irgendwann zwischendrin, endlich wieder nach Hause zu kommen.

    Geschätzt waren es noch 300 Meter Luftlinie, ich stand im Regionalexpress in Nähe der Tür und neben mir ein jüngerer Herr aus irgendwo Richtung Fernost. Gemeinsam rollten wir mit den Augen bei Betrachtung des Dritten im Bunde, eine langen, schlacksigen kaukasischen Gestalt mittleren Alters, die offenbar einen netten Abend gehabt hatte und durch ihr Schwanken den gesamten vorderen Türraum einnahm. Vorher hatte dieser Mann noch für sympathische Unterhaltung gesorgt, als nämlich der Zugbegleiter vorbeistürmte und uns "Gab es da gerade eine Ansage??" zurief und er, der Schwankende, mit "Neeee, ich mach heute lieber keine Ansage mehr" antwortete. Ein perfekter Nonsens-Dialog entspann sich (der noch schöner war als der, den ich am Morgen mit einer älteren Dame bei der Post, bzw. vor der Post, führte, die mir erst nach vielen Worten gestattete, ihr auf der Treppe mit dem Laufwagen behilflich zu sein, obwohl ich kein Mann bin) und der Zugbegleiter konkretisierte: "Ich meine doch eine Zugansage" und der Schwankende konkretisierte ebenfalls "Ach kommense, das interessiert doch hier im Zug keinen, ich halt lieber den Mund, und in meinem Zustand erst..." Recht so, obwohl ich bei all dieser Einsicht beinah schon gespannt gewesen wäre, mehr zu erfahren.

    Jedenfalls hielt der Zug am Bahnhof und Schwankende nahm den grünen Türöffnungsknopf ins Visier, stach immer wieder mit seinem dünnen krummen Zeigefinger vorbei. Der Fernöstliche und ich praktizierten noch eine Runde gemeinschaftliches Augenrollen bis ich schließlich den anderen grünen Knopf an der Seite betätigte und der Schwankende mit einem zufriedenen "Hab ich Dich!" Richtung seines Knopfes aus der Bahn taumelte. Wir ließen ihm einen Sicherheitsabstand und er steuerte auf die Treppe zu, verlor jedoch kurzzeitig das Gleichgewicht und stützte sich am Zug ab. Der Zug fuhr an und der Schwankende stürzte in den Mind-the-Gap!-Spalt.

    Nun kann man ja sagen, was man will, aber meine mir durch konsequentes Giga-Tasking anhaftende zeitweise Ungeschicklichkeit hat im Laufe der Jahre hervorragende Reflexe hervorgebracht. Ich bin die Frau, die mal auf einer Silvesterparty ein randvolles LIIT-Glas mit dem Rucksack vom Tisch fegte und dieses vor Aufprall auf dem Fußboden wieder auffing, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Und es war deutlich nach Mitternacht und nicht das erste LIIT-Glas und keine Happy-Hour-Variante. So gelang es mir auch, den Mann noch am Arm zu erwischen und der (vermutlich irgendwie extrem kampfsportgeschulte) Fernöstliche half tapfer mit. Der Zug hielt wieder an, den Mann hatten wir äußerlich unversehrt auf den Bahnsteig gezerrt, nur leider war er nicht mehr bei Bewusstsein und schien auch auf den ersten Blick nicht zu atmen.

    Während ich mich noch gedanklich in mein ja gar nicht so lang zurückliegendes Ersthelfertraining vertiefte, begann der Fernöstliche bereits mit "Maßnahmen" und der Zugbeleiter telefonierte. Fast unmittelbar waren Polizei und Rettungsdienst da und mir war kalt und komisch im Bauch und ich musste unbedingt nach Hause. Ein Polizist wollte noch so einiges wissen, aber da mir nichts, was ich sagen konnte, als unmittelbar dringlich für den Gesundheitszustand des Mannes erschien, gab ich ihm meine Kontaktdaten für Fragen ein andermal.

    Keine Antworten am Ende eines solchen Tages kurz nach Mitternacht nach Sekundenbruchteilen, die dem Gehirn sämtliches Wasser für den bald folgenden Gedankentsunami abziehen.

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